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Politik

Tunesien: Sit-in für Arbeitsplätze

Sarah Mersch
29. Mai 2017

Im Süden Tunesiens rumort es. Seit Wochen fordert eine große Prostestbewegung, an den Einnahmen aus der Ölförderung in der Region beteiligt zu werden. Nun kam es erstmals zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

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Tunesien - Gouvernorat Tataouine: Ein Mitglied der Protestbewegung vor einem niedergebrannten Zelt in Kamour
Ein Mitglied der Protestbewegung vor einem niedergebrannten Zelt in KamourBild: DW/S. Mersch

Um nach Kamour zu gelangen, geht es die Landstraße Richtung libyscher Grenze entlang. Die Ortschaften haben hier pragmatische Namen. In "Brunnen Dreißig", einem Weiler mit einem Dutzend Häuser, säumen ungefähr genauso viele informelle Wechselstuben aus Wellblech den Straßenrand, in friedlicher Koexistenz mit dem Posten der Nationalgarde am Ortseingang. Die letzten Kilometer führt eine holprige Piste mit Sandverwehungen durch die Wüstenlandschaft. Kamour selbst besteht aus einer Anlage des staatlichen Stromversorgers und einer Pumpstation der Öl-Pipeline, die sich durch die Wüste zieht.

Dort, mitten im Nirgendwo zwischen der libyschen und der algerischen Grenze, rund 120 Kilometer südwestlich der Provinzhauptstadt Tataouine, hat seit Mitte April eine Gruppe Demonstranten ihre Zelte aufgeschlagen. Jedes Dorf, jeder Stadtteil hat ein Zelt, und jedes Zelt schickt einen Vertreter in den Koordinationsrat, der die Anliegen der Protestbewegung vertritt. Mehr als 1000 Personen leben zeitweise dort. Ihre Forderungen: Arbeitsplätze vor allem bei den Firmen, die in der Region Öl und Gas fördern, und mehr Entwicklungsgelder. Denn meistens sind es Offshore-Firmen, die in dem Gebiet zwar Öl fördern, aber dort keine Steuern zahlen. Sie sind der einzige größere Arbeitgeber in der Gegend, wo rund die Hälfte der Universitätsabgänger arbeitslos ist.

Tunesien - Gouvernorat Tataouine: Blick auf die Reste des Protestcamps in Kamour
Die Reste des Protestcamps in KamourBild: DW/S. Mersch

"Wir lassen nicht locker"

Mohammed wischt sich mit seinem grünen T-Shirt den Schweiß aus dem sonnenverbrannten Gesicht. "Ich bin 34 Jahre alt, habe in Libyen gearbeitet." Als dort 2011 der Krieg ausbrach, kam er nach Tunesien zurück. "Ich habe nichts. Nicht geheiratet, kein Haus gebaut, nichts." Er zuckt hilflos mit den Schultern. "Selbst um mal mit seiner Verlobten auszugehen gibt es nichts. Wir können nirgendwohin." Auch die Wüste, wo er und seine Mitstreiter jetzt ausharren, ist eigentlich Sperrgebiet und nur mit Erlaubnis der Behörden zu betreten. Arbeitslosigkeit, keine Zukunftsperspektiven, Frust - die Situation in Tunesiens flächenmäßig größtem Gouvernorat Tataouine ist ähnlich wie anderswo im verarmten Landesinneren, das seit 2011 darauf wartet, die Früchte der Revolution zu ernten. Doch in Tataouine liegen die Öl- und Gasvorkommen Tunesiens, die von zumeist ausländischen Firmen mit wenig transparenten Verträgen gefördert werden.

Mitte Mai hatte Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi angekündigt, dass das Militär in Zukunft die Förderanlagen des Landes schützen solle, denn Öl, Gas und Phosphat sind einige der wichtigsten Einnahmequellen der Region und die Demonstranten dem Staatschef ein Dorn im Auge. Doch das Verteidigungsministerium stellte schnell klar: Anlagen schützen ja, aber Proteste auflösen sei nicht Aufgabe des Militärs. Und so existierten in Kamour beide Welten mehrere Wochen lang relativ friedlich nebeneinander: die Bewohner des Sit-ins, meist jüngere Männer, zweigen beim Militär den Strom ab, das nächstgelegene öffentliche Krankenhaus hat ein Tag und Nacht besetztes Sanitätszelt eingerichtet, und Verwandte und Unterstützer aus den umliegenden Ortschaften schicken regelmäßig Lebensmittel vorbei. "Wir lassen nicht locker" lautet das Motto der Demonstranten, das in Tunesien inzwischen zum geflügelten Wort geworden ist.

Tunesien - Gouvernorat Tataouine: niedergebrannten Posten der lokalen Einheit der tunesischen Nationalgarde
Ein niedergebrannter Posten der tunesischen NationalgardeBild: DW/S. Mersch

Eskalation nach Tod eines Demonstranten

Die Stimmung kippt, als die Demonstranten nach mehrfach gescheiterten Verhandlungen mit dem Arbeitsministerium beschließen, die Ölpumpstation in Beschlag zu nehmen und die Fördermenge zu drosseln - kontrolliert und unter militärischer Aufsicht. Vor einer Woche, am 22. Mai, versucht eine aus Tunis entsandte Einheit der Nationalgarde, das Sit-in aufzulösen, geht mit Tränengas und Schrotmunition gegen die Demonstranten vor und brennt einen Teil der Zelte nieder, die Demonstranten werfen Steine zurück. Ein 21-Jähriger wird dabei von einem Fahrzeug der Sicherheitskräfte überrollt und stirbt.

Daraufhin kommt es auch in der Provinzhauptstadt Tataouine zu Auseinandersetzungen, bei denen zwei Posten der Sicherheitskräfte niedergebrannt werden. Gleichzeitig wird unweit ein Depot beschlagnahmter Autos geplündert. "Wir haben damit nichts zu tun. Wir sind weder Terroristen noch Schmuggler", schimpft Mohammed, als könne er die Frage schon nicht mehr hören. "Wir fordern doch nichts anderes als Gleichheit. Das ist nicht nur ein Wort, das in der Verfassung steht, Gleichheit muss auch praktiziert werden", sagt Adnen, ein Mittzwanziger, der in grauem Jogginganzug und Badeschlappen vor einem niedergebrannten Zelt steht. "Wir wollen nur die gleichen Chancen wie die Bewohner der Küstengebiete."

Tunesien - Gouvernorat Tataouine: Eine offene Ölleitung in Kamour
Offene Ölleitung in KamourBild: DW/S. Mersch

Schmuggel als einzige Einnahmequelle

Einige Beamte in Zivil begutachten in Tataouine in den nächsten Tagen die Schäden. Alles von den beiden Posten der Sicherheitskräfte ist in Flammen aufgegangen. Auf dem Boden liegen Glasscherben und Reste von Möbeln, leere Tränengaspatronen und kaputte Rechner, in denen nur die Festplatten fehlen. Hinter vorgehaltener Hand hört man hier in Tataouine die gleiche Version der Geschichte wie in Kamour: Hinter den Ausschreitungen steckten nicht die Demonstranten, sondern führende Köpfe der Schmugglerorganisationen, die von der Situation profitieren wollten.

Schon lange vor dem Umbruch von 2011 haben formeller und informeller Sektor im Dreiländereck Tunesien-Libyen-Algerien nebeneinander existiert. Der damalige Präsident Ben Ali duldete den regen Grenzverkehr und ließ einige einflussreiche Schmuggler gewähren. Denn sie sicherten dem wirtschaftlich abgehängten Süden die Existenz und garantierten den Machthabern im fernen Tunis Stabilität. Der informelle Sektor erwirtschaftet in Tunesien mehr als die reguläre Wirtschaft, so eine Studie des tunesischen Arbeitgeberverbands. Doch seit dem Ende der Diktatur haben sich die Schmuggelnetzwerke verselbstständigt, neben Alltagswaren kommen auch Waffen aus alten libyschen Beständen ins Land. Auch Mohammed hat schon an der Grenze Ware in Empfang genommen, "aber nur Zigaretten und Benzin, nichts Strafbares. Wir haben doch keine andere Wahl, wo sollen wir denn arbeiten?" 

Die tunesischen Behörden haben in den letzten Tagen in einer Verhaftungswelle eine Reihe der führenden Köpfe des Grenzschmuggels festgenommen. Auch diese Einkommensquelle dürfte für viele Bewohner der Grenzregionen demnächst versiegen. Adnen, Mohammed und ihre Mitstreiter wollen nicht aufgeben und weiterhin für reguläre Arbeitsplätze demonstrieren. "Wir bleiben, trotz Fastenmonat. Wenn nötig, feiern wir auch das Zuckerfest und sogar das Opferfest Anfang September hier."