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Zwei Schritte vor, einer zurück

Sarah Mersch, Tunis16. Dezember 2015

Fünf Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings steht die junge Demokratie des nordafrikanischen Landes auf wackligen Füßen. Der Antiterrorpolitik fallen Freiheiten zum Opfer. Sarah Mersch berichtet aus Tunis.

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Demonstration zur Auflösung der Ben-Ali-Partei RCD in Tunis - Foto: DW/S. Mersch
Bild: DW/S. Mersch

"Je länger wir den 14. Januar 2011 hinter uns lassen, desto kleiner wird der Freiraum, denn wir mal hatten", schimpft Lotfi Farhane. Mehr als vier Jahre war er Bürgermeister der Kleinstadt Sayada, rund 200 Kilometer südlich von Tunis. In dieser Zeit wurde der Ort über die Landesgrenzen Tunesiens hinweg bekannt. Denn Bürgermeister Farhane setzte auf Transparenz und Bürgerbeteiligung - per Abstimmung auf der Webseite, die die Bewohner der Stadt über das offene WLAN-Netz aufrufen konnten. Eine Neuheit in einem Land, in dem bis vor fünf Jahren noch Korruption und Misstrauen der Bevölkerung in den Staat das gesellschaftliche Klima prägten.

Doch kurz vor dem fünften Jahrestag der Revolution hat der engagierte Bürgermeister nach Drohanrufen, sabotierten Stadtratssitzungen und Schikanen der Behörden sein Ehrenamt aufgegeben. "Die Methoden der RCD kehren heute zurück", ist er überzeugt. Die RCD war die Partei des gestürzten Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali. Sie wurde kurz nach dessen Flucht im Januar 2011 aufgelöst.

Überstürzte Flucht

Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler, hatte mit seiner Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 in der Provinzstadt Sidi Bouzid traurige Berühmtheit erlangt. Sein Akt der Verzweiflung löste eine Welle von Protesten aus, die sich schnell verselbständigte. Mitte Januar versammelten sich in der Hauptstadt Tunis mehrere Tausend Demonstranten und skandierten "Hau ab!" und "Brot und Wasser! Nein zu Ben Ali!". Wenige Stunden später flüchtete der Machthaber nach 23 Jahren Herrschaft nach Saudi-Arabien, wo er bis heute lebt. Die genauen Umstände seiner Flucht sind nach wie vor unklar. Eine Übergangsregierung wurde eingesetzt, die Partei Ben Alis verboten und im Herbst 2011 fanden zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens freie Wahlen statt.

Das Land schien, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Region, auf dem besten Weg zu einer Demokratie. Doch die Begeisterung der Bevölkerung über neu gewonnene politische Freiheiten und die Hoffnung auf soziale und wirtschaftliche Reformen wich schnell der Ernüchterung. Die neue Verfassung ließ auf sich warten. Zwei politische Morde erschütterten 2013 das Land. Damals drohte die Situation zu kippen. Nur durch die monatelange Vermittlung des sogenannten Quartetts konnte die Krise politisch gelöst werden. Dafür wurden die vier Organisationen - Gewerkschaftsverband, Arbeitgeberverband, Menschenrechtsliga und Anwaltskammer - 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Politische Stabilisierung

Während sich die politische Situation seitdem durch die Verabschiedung der Verfassung sowie die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stabilisiert hat, sehen viele Tunesier die Errungenschaften der Revolution in Gefahr. Drei Anschläge, zu denen sich die Terrororganisation "Islamischer Staat" bekannt hat, haben in diesem Jahr mehr als 70 Todesopfer gefordert. Gleichzeitig stellen Tunesier mehr als 5000 Kämpfer vor allem im Irak und Syrien und damit die höchste Anzahl an Ausländern, die in radikalen Gruppierungen kämpfen.

Beerdigung des ermordeten Oppositionellen Chokri Belaid - Foto: DW/S. Mersch
Beerdigung des mutmaßlich von Islamisten ermordeten Oppositionspolitikers Chokri BelaidBild: DW/S. Mersch

Die tunesische Regierung reagierte darauf mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen und einem neuen Antiterrorgesetz. Doch damit einher geht ein Rückschritt in Sachen Demokratie: Menschenrechtsorganisationen berichten von der Zunahme von Folter auf Polizeiwachen und Gefängnissen. Verdächtige werden tagelang ohne Kontakt zu einem Anwalt festgehalten. Mehrere junge Leute wurden in den letzten Wochen wegen Haschisch-Konsums oder Homosexualität verurteilt.

Wirklich wichtige Fragen vergessen

Abdessatar Ben Moussa, Nobelpreisträger und Vorsitzender der tunesischen Menschenrechtsliga, warnte im französischen Fernsehen vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen. "Jedes Mal wenn es einen Anschlag gibt, werden die Stimmen lauter, dass die Menschenrechte nicht wichtig sind." Dabei seien gerade diese die beste Waffe gegen den Terrorismus.

Solidaritätsdemonstration nach Anschlag auf Bardo-Museum im März 2015 - Foto: DW/S. Mersch
Nach dem islamistisch motivierten Anschlag auf das Bardo-Museum gingen viele Tunesier auf die StraßeBild: DW/S. Mersch

Auf der Strecke geblieben sind bei den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre in Tunesien vor allem die, die 2010 den Anstoß zum Umbruch gegeben haben: die meist jungen Leute im verarmten Landesinneren, die vom bescheidenen Wirtschaftswachstum des reichen Küstenstreifens abgeschnitten sind. "Seit 2011 reden wir nur über Politik. Die wirklich wichtigen Fragen sind wir jedoch nie angegangen", meint Alaa Talbi, Geschäftsführer des linken Thinktanks "Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte". Themen wie Kultur, Wirtschaft und die Reform des Bildungssystems seien in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden. "Dabei sind es gerade diese Themen, die den Erfolg der Demokratie in den nächsten 15 bis 20 Jahren ausmachen werden."