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Ukrainisches Parlament zwischen Neu- und Fehlstart

Roman Goncharenko27. November 2014

Die Koalitionsbildung dauerte länger als gedacht. Kritiker warnen vor dem Ausbruch einer alten Krankheit der ukrainischen Politik: Streit. Die Erwartungen an das neue Parlament sind trotzdem hoch.

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Ansicht des Parlaments in Kiew (Foto: RIA Novosti)
Bild: picture-alliance/dpa

Manche Medien in Kiew sahen darin bereits ein böses Omen. Eigentlich hätte Juchym Swjahylskij bei der ersten Sitzung des neuen ukrainischen Parlaments am Donnerstag als Erster vereidigt werden müssen. So sieht es die Parlamentsordnung vor. Mit 81 Jahren ist er der älteste Abgeordnete. Doch Swjahylskij ist ein umstrittener Kohlemagnat aus dem ostukrainischen Donezk und Mitglied der einst mächtigen prorussischen "Partei der Regionen", die durch oppositionelle Proteste im vergangenen Winter entmachtet wurde.

Jazenjuk bleibt Ministerpräsident

Und so wurde bis zuletzt nach einer Lösung gesucht, um die symbolische Wirkung seines Auftritts abzumildern. Man einigte sich darauf, die rund 420 Abgeordneten der Werchowna Rada gleichzeitig, im Chor, zu vereidigen. Im Vordergrund soll der Neuanfang stehen, so der Wunsch der politischen Führung.

Große Überraschungen hat es bei der ersten Sitzung nicht gegeben. Das Parlament wählte Wolodymyr Hrojsman, den bisherigen Vizeregierungschef und engen Vertrauten des Präsidenten Petro Poroschenko, zum neuen Vorsitzenden. Außerdem wurde der bisherige Ministerpräsident Arseni Jazenjuk mit einer großen Mehrheit wieder ins Amt gewählt. Über Personalien in seinem neuen Kabinett soll Anfang Dezember entschieden werden. Auch der Koalitionsvertrag wird voraussichtlich in den kommenden Tagen unterzeichnet.

Existenzielle Herausforderungen

Auf den ersten Blick beginnt mit dem Ende Oktober vorzeitig gewählten Parlament tatsächlich eine neue Etappe. Als Sieger sind neue Parteien hervorgegangen, manche waren erst vor einigen Monaten gegründet worden. Zum ersten Mal gibt es eine breite proeuropäische Mehrheit. Die prorussischen Parteien dagegen sind diesmal entweder gar nicht im Parlament vertreten, wie etwa die Kommunisten, oder sind geschwächt. Letzteres gilt für die "Partei der Regionen" des nach Russland geflüchteten Präsidenten Viktor Janukowitsch.

Die Erwartungen sind hoch, die Herausforderungen existenziell. Das neue Parlament solle vor allem "das korrupte Verwaltungssystem zerschlagen und den Krieg in der Ostukraine beenden", meint der Kiewer Fernsehjournalist Serhij Rudenko im DW-Gespräch. Passiere das nicht, drohten der Ukraine erneut vorgezogene Wahlen bereits im Jahr 2015.

Der ukrainische Präsident Poroschenko (rechts) und Premier Jazenjuk (Foto: Reuters)
Präsident Poroschenko (r.) und Premier Jazenjuk: Beobachter sehen ihren Machtkampf kritischBild: Reuters/Andrew Kravchenko

Der in der Ukraine lebende deutsche Publizist Winfried Schneider-Deters ergänzt, das neue Parlament müsse zusammen mit der Regierung "den drohenden wirtschaftlichen GAU" verhindern. Seit Monaten schrumpft die ukrainische Wirtschaft, die nationale Währung Hrywna verliert fast täglich an Wert. Das Haushaltsdefizit im Jahr 2014 könnte dramatische Ausmaße erreichen. Nach einigen Schätzungen fehlen rund zehn Milliarden Euro.

Wochenlange Koalitionsverhandlungen

Vor diesem Hintergrund versprach der ukrainische Präsident Petro Poroschenko die Gründung einer neuen Regierungskoalition "innerhalb von ein bis zwei Tagen" nach der Parlamentswahl. Diese Hoffnung blieb unerfüllt. Fast vier Wochen lang wurde verhandelt, bevor sich fünf von sechs im Parlament vertretenen Parteien auf die Bildung einer Koalition einigen konnten. Darin vertreten sein werden der "Poroschenko-Block", die "Volksfront" des Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk, die "Vaterlandspartei" der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko, die in der Westukraine verwurzelte neue "Selbsthilfe-Partei", sowie die "Radikale Partei" des Rechtspopulisten Oleh Ljaschko. Draußen bleibt nur der "Oppositionelle Block", in dem viele Vertreter der "Partei der Regionen" sind.

Beobachter in Kiew sehen in dem Machtkampf zwischen Poroschenko und Jazenjuk einen Grund für die Verzögerung der Koalitionsbildung. Die Ukraine ist eine parlamentarische Demokratie. Der Ministerpräsident verfügt über mehr Macht als der Staatschef. Poroschenkos offensichtlicher Wunsch, einen Premier aus der eigenen Partei zu installieren, scheiterte am Wahlergebnis. Die Partei von Jazenjuk bekam mit rund 22 Prozent die meisten Stimmen über Parteilisten. Das Poroschenko-Bündnis landete mit rund 21 Prozent auf Platz zwei.

Drohender Streit über Ministerposten

Zum ersten Mal gibt es im ukrainischen Parlament eine Koalition aus mehr als 300 Abgeordneten. Das reicht nicht nur, um Gesetze zu verabschieden, sondern auch um die Verfassung zu ändern.

Ukraine-Experte Winfried Schneider-Deters (Foto: privat)
Schneider-Deters: Parlament muss Wirtschafts-GAU verhindernBild: Winfried Schneider-Deters

Doch Beobachter sind skeptisch. Die Ukraine hat eine Tradition von langen Koalitionsverhandlungen und Streitereien wegen der Verteilung von Posten, die sich manchmal über Monate ziehen. "Konflikte zwischen Machthabern können die Existenz des Staates gefährden", warnte deshalb neulich Serhij Rachmanin, stellvertretender Chefredakteur der renommierten Kiewer Wochenzeitung "Dserkalo Tyschnja". "Die größte Gefahr ist, dass dieser Konflikt zwischen Poroschenko und Jazenjuk erneut ausbricht", gab auch der Ukraine-Experte Schneider-Deters zu bedenken. Das erinnere ihn an den Streit zwischen dem Präsidenten Viktor Juschtschenko und der Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, als beide zwischen 2005 und 2010 an der Macht waren.

Hoffnung auf Generation Maidan

Diesmal hat Schneider-Deters mehr Hoffnung: "Es kann sein, dass durch die sehr detaillierte Formulierung dieses neuen Koalitionsvertrages so etwas wie ein Korsett eingezogen wurde, das sie zur Zusammenarbeit zwingt". Außerdem seien neue Politiker ins Parlament gewählt worden, die an der oppositionellen Maidan-Bewegung beteiligt waren und ein "Weitermachen wie bisher" nicht zulassen werden, hofft der Experte. Er scheint darin jedoch optimistischer zu sein, als so manch anderer Beobachter aus der Ukraine.