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Belarus Kulturszene

11. Februar 2011

Die Proteste waren massiv, die Reaktionen gewaltsam. Seit der manipulierten Präsidentschaftswahl im Dezember vergeht in Belarus kein Tag ohne Verhöre und Verhaftungen. Auch Künstler sind von den Repressionen betroffen.

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Konzert des belarussischen Sängers Ljavon Volski. Copyright: Ingo Petz
Bild: budzma.org

Gryschka aber ist wieder frei. Von seiner Zeit im KGB-Gefängnis ist er noch ziemlich mitgenommen. Dennoch macht Gryschka sich und allen, die nach der schockierenden Gewalteskalation deprimiert und desillusioniert sind, Mut. "Ich habe gelächelt", singt er "obwohl sie mir gesagt haben, dass ich Angst haben soll. Freunde, glaubt mir, viel Zeit bleibt ihnen nicht." Gryschka hat nicht wirklich an den Demonstrationen teilgenommen. Er ist eine Kunstfigur, die sich der belarussische Sänger und Liedermacher Ljavon Volski ausgedacht hat. Volskis "Lieder der Wahrheit" sind so etwas wie die Hymnen der oppositionellen Kulturbewegung. In ihnen reflektiert der Musiker die Vorgänge in seinem Land in Form ironisch-kabarettistischer Couplets.

Gryschka und Sauka

Ljavon Volski hat dazu zwei Figuren geschaffen, die symbolisch für die Spaltung der belarussischen Gesellschaft stehen. Auf der einen Seite Gryschka, ein Patriot und Gegner von Lukaschenko. Er spricht Belarussisch und wünscht sich eine Annäherung seiner Heimat an die Europäische Union. Auf der anderen: Sauka, ein Unterstützer Lukaschenkos, der sich nach den alten sowjetischen Zeiten zurücksehnt.

Beiden gemeinsam sind eine aberwitzige Bauernschläue und die Liebe zu ihrem Land – ein Land, das in Europa kaum jemand wahrnimmt, wenn es nicht gerade einmal wieder zu Protesten und Verhaftungen kommt wie jetzt. Volskis Couplets sind ein Beispiel dafür, wie die belarussische Kulturszene versucht, die tragischen Vorgänge in ihrem Land kreativ zu verarbeiten. Andere gehen im wahrsten Sinne des Wortes in den Untergrund. Die Schauspieler des "Freien Theater Minsk" treten im Verborgenen auf: in Privatwohnungen, abrissreifen Häusern, privaten Cafes. In Westeuropa dagegen sind sie begehrte Festival-Gäste. Literarische Texte werden durch wenige unabhängige Kleinverlage verbreitet – die freilich täglich ums Überleben kämpfen müssen.

Der belarussische Sänger Ljavon Volski bei einem Auftritt. Copyright: Ingo Petz 2011
"Lieder für die Wahrheit": Ljavon VolskiBild: Ingo Petz

Die Macht des Wortes

Am 8. Februar wird der Sänger Ljavon Volski im "Roten Salon" der Berliner Volksbühne auftreten. Gemeinsam mit einigen der bekanntesten Künstler aus der zeitgenössischen weißrussischen Kulturszene. Mit dabei ist die Schriftstellerin Svetlana Alexijevitsch, deren Bücher über Tschernobyl oder über Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg auch ins Deutsche übersetzt wurden. Der Autor und Künstler Artur Klinau kommt ebenfalls nach Berlin. Er wurde in seiner Heimat für sein subtiles Spiel mit sowjetischen Mythen bekannt und sorgte vor ein paar Jahren mit dem Buch "Minsk. Sonnenstadt der Träume" für Furore in den deutschsprachigen Feuilletons.

Die Veranstaltung unter dem Titel "Belarus. Die Macht des Wortes" soll die Bedeutung der belarussischen Kultur in den Vordergrund rücken. Denn von ihr kommen seit Jahren die stärksten Impulse im Kampf gegen das autoritäre Regime und für ein freiheitliches Belarus. Die Musiker und Literaten brauchen Mut in einem Land, das Staatskunst nach sowjetischem Vorbild fördert, aber die alternative Musik- und Literaturszene in den vergangenen 16 Jahren immer wieder massiv unter Druck gesetzt und in den Untergrund getrieben hat.

Freunde in Deutschland

Unterstützt werden die belarussischen Künstler, die sich in Berlin auf einen großen Freundeskreis verlassen können, auch von prominenten deutschen Kollegen. Zum Beispiel von Ingo Schulze. Der Schriftsteller ist in der DDR aufgewachsen und hat dort selbst erlebt, wie wichtig eine Kulturbewegung in einem autokratischen Staat sein kann, um kritisches Denken und alternative Wahrnehmungen zu fördern. Schulze ist häufig durch Osteuropa gereist und hat in seinem Erzählband "33 Augenblicke des Glücks" eigene Erfahrungen aus Russland reflektiert. Ihm ist die Situation in Belarus nicht gleichgültig:

"Belarus grenzt an die EU, trotzdem scheint es für die deutsche Öffentlichkeit in einer regelrechten Wahrnehmungslücke zu liegen, obwohl die Geschichte dieses Landes eng mit der deutschen verflochten ist. Die Schriftsteller und Musiker, überhaupt die Künste, können diesem nahen-fernen Nachbarn am ehesten ein Gesicht geben. Sie sind es, die jenseits der politischen Lager die Wahrnehmung beeinflussen und damit Widerstand schaffen können."

Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack - der im März den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält - stellt sich auf die Seite seiner verfolgten Kollegen und meint: "Belarus ist eine 'terra incognita', ein weißer Fleck auf den Landkarten in unseren Köpfen. Das ist unverzeihlich. Wir wissen zu wenig über das Land, zu wenig über die belarussische Literatur. Diese Ignoranz ist erschreckend und schändlich. Es ist höchste Zeit, dass wir das ändern."

Der belarussische Autor Artur Klinau, im Hintergrund ein Gemälde, das Präsident Lukaschenko zeigt. Foto; Andrej Liankevich
Regimegegner und Präsident: vorne Artur Klinau, hinten Alexander LukaschenkoBild: Andrej Liankevich

Zwischen Depression und Widerstand

"Es sieht so aus, als solle die Opposition, die Zivilgesellschaft überhaupt systematisch zerstört werden", sagt der Journalist Andrej Dynko. Im Moment ist es daher schwer zu sagen, wie sich die weißrussische Kultur positionieren wird. Kaum jemand hatte mit einer derartigen neuerlichen Repressionswelle gerechnet. Swetlana Alexijewitsch und viele andere fühlen sich an den stalinistischen "Großen Terror" der 1930er Jahre erinnert. Die Jahreszahl "1937" findet sich inzwischen wie ein Menetekel in einer ganzen Reihe von kritischen Veröffentlichungen. Genauso unklar ist es, ob die Freiräume, die sich die Kultur bereits erobert hatte, vom Regime nun vollends geschlossen werden.

Viele Künstler haben erst einmal ihr Land verlassen und befinden sich in Vilnius, Moskau oder Warschau. "Um durchzuatmen und darüber nachzudenken, wie es weitergehen kann. Die Ungewissheit, nicht zu wissen, ob du in deiner Heimat morgen noch mit deiner Kunst leben und überleben kannst, macht dich sehr, sehr mürbe und traurig." Das sagt der Fotograf Andrej Ljankevitsch, der vor dem 19. Dezember eigentlich nie an eine Emigration gedacht hat. Nun aber glaubt er: "Ich muss wohl auch eine Auswanderung in Erwägung ziehen. Leider."

Autor: Ingo Petz

Redaktion: Cornelia Rabitz