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"Und jetzt mit Schwung!"

20. Oktober 2011

Kinder lernen das Radfahren, bevor sie zur Schule gehen. Aber viele Migrantinnen, in deren Heimatländern das Radfahren sich für Frauen nicht schickt, können es nicht. Für sie gibt es jetzt spezielle Fahrradkurse.

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Auf dem Bild sind Teilnehmerinnen des Fahrradkurses für Migrantinnen vor der Jahrhunderthalle Bochum, rechts die Helferin Ina Gilgen (Foto: dw)
Bild: Joanna Zadora-Gruse

"Mama, kann die Frau nicht Fahrrad fahren?" Selbst ein vierjähriger Knirps auf dem Laufrad erkennt, dass Müzeyyen Balci eine blutige Anfängerin ist. "Sie lernt gerade", erklärt die Mutter: "Als Erwachsener ist das viel schwerer, die Angst ist größer." Wohl wahr. Die 37-jährige Balci krallt sich an den Lenker, schwankt unsicher hin und her. Aber sie versucht es, immer wieder. Die Lehrerin, Joanna Zadora-Gruse, rennt hinterher, um sie notfalls zu stützen. "Das Fahrrad ist Ihr Freund! Sie kontrollieren es und nicht umgekehrt!", ruft die Lehrerin. Aber Balci scheint dem neuen Freund nicht so recht zu trauen.

Auf dem Bild ist die Teilnehmerin des Fahrradkurses für Migrantinnen Selma Uzan vor der Jahrhunderthalle Bochum zu sehen (Foto: dw)
Selma Uzan: "Mit dem Auto ist es mir zu stressig."Bild: DW/Matilda Jordanova-Duda

"Auf dem großen Platz vor der Jahrhunderthalle in Bochum drehen fünf Frauen ihre Runden. Der erste Fahrradkurs für Migrantinnen in der Stadt, organisiert von der Migrantenorganisation IFAK e.V. mit Hilfe der Diakonie Ruhr und finanziert vom Stadtumbaubüro für das Viertel Westend. Seit einigen Jahren wird das "Problemviertel" modernisiert, man versucht die Bewohner zusammen zu bringen. So entstand die Idee mit dem Fahrradkurs. Zehn Anmeldungen kamen sehr schnell zusammen, die Bürger spendeten gebrauchte Räder, die in der Behinderten-Werkstatt der Diakonie generalüberholt wurden.

"Wenn die Sonne scheint, ist das Rad besser"

Die Teilnehmerinnen stammen aus der Türkei, dem Irak, Kasachstan und Georgien. Balci lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Als Kind hat sie nicht die Kunst gelernt, sich auf zwei Rädern fortzubewegen. Und Frauen tun das in ihrer Heimat Türkei sowieso nicht. "Frauen fahren Auto, aber hier in Deutschland habe ich gesehen, dass viele Frauen Rad fahren." Eines Tages mit den Freundinnen hinausradeln und sich in ein Cafe setzen, das wäre es. "Wenn die Sonne scheint, ist das Rad besser als das Auto."

Zadora-Gruse, die eigentlich Integrationskurse gibt, hatte anfangs gar nicht gedacht, dass es so schwer sein wird. "Zuerst haben wir die Fahrräder nur geschoben", sagt die Trainerin. Dann wurden die Pedale bei ein paar kleineren Geräten abmontiert, um so was wie ein Laufrad für Erwachsene hinzubekommen, fürs Üben des Gleichgewichts. Nach 20 Stunden Unterricht schaffen es nun die Frauen, sich im Sattel zu halten und die Pedale zu treten. Aber mit Anfahren und Stoppen hapert es noch: Bis zur gemeinsamen Abschlussfahrt ins Grüne wird es noch ein paar Stunden dauern. Im Frühjahr wird es wahrscheinlich wieder einen Kurs geben.

"Der Bedarf an Fahrradkursen für Migrantinnen ist da", sagt die Mobilitätsexpertin Jutta Deffner vom Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE): "Wo sie angeboten werden, werden sie sehr gut angenommen", solche Kurse schießen sowohl in Kleinstädten wie Rheine als auch in Großstädten wie Berlin oder Frankfurt wie Pilze aus dem Boden. Migranten- oder Wohlfahrtsorganisationen initiieren sie, manchmal in Zusammenarbeit mit der Polizei oder dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club e.V. (ADFC). Doch die Angebote sind meist nur sporadischer Natur.

In der Mobilitätsdebatte wurden die Migranten vergessen

Muzeyyen Balci auf dem Rad mit ihrer Lehrerin Joanna Zadora-Gruse auf dem Übungsplatz vor der Jahrhunderthalle Bochum (Foto: dw)
"Das Fahrrad ist Ihr Freund!"Bild: DW/Matilda Jordanova-Duda

"Dass es kein einheitliches Programm gibt, liegt wahrscheinlich an den Ressourcen, die teils in den Sozialetats, teils in den Verkehrsetats freigemacht werden müssen", vermutet Deffner. Schade: Schließlich ist es ökologisch sinnvoll und erwünscht, dass mehr Menschen auf das Rad umsteigen. Aber in der Mobilitäts- und Nachhaltigkeitsdebatte seien die Migranten komplett vernachlässigt worden.

"Und das Benzin kostet!", stöhnt Selma Uzan. Dazu die Staus, die Parkplatzsuche. "Während der Woche muss ich ständig meinen Sohn irgendwohin fahren: zum Fußball, zum Kung Fu, zur Nachhilfe. Und fast jeden Tag einkaufen - das ist unser Leben. Solche kurzen Strecken mit dem Auto - das ist mir langsam zu stressig." Zeit auch, an die Gesundheit zu denken. Eine andere Möglichkeit, Sport zu treiben, habe sie nicht. Aber Radfahren ist ja auch Bewegung. Deshalb lernt die 37-Jährige es jetzt. Genauer gesagt, sie frischt es auf: Ihr fällt es weitaus leichter als Müzeyyen Balci.

Als Schulkind, erinnert sich die gebürtige Bochumerin, habe sie nämlich schon mal im Sattel gesessen, sogar in der 4. Klasse mit ihren Mitschülern die Fahrradprüfung mitgemacht. Aber dann war Schluss. Allein traute sie sich nicht mehr: "Was, wenn ich stürze und mich verletze?" Ihre beiden Kinder sind ihr da natürlich längst voraus. "Mama, wieso kannst du nicht Fahrrad fahren? Lass uns doch zusammen fahren!", staunten sie, erzählt die gelernte Schneiderin. Es gebe ja so schöne Freizeitstrecken hier in Bochum. Auch ihr Mann würde ihr sofort ein teures Rad kaufen. Selma Uzan hat sich erst einmal ein gebrauchtes geliehen. Zum Üben.

Autor: Matilda Jordanova-Duda
Redaktion: Arne Lichtenberg