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Ungarn: Ausverkauf um fünf nach Zwölf

7. Mai 2002

– 500 000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche sollen zum Verkauf angeboten werden

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Budapest, 6.5.2002, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch, Hartmut Wagner

Der (Wahl)-Krieg ist zwar verloren, aber die letzte Schlacht noch nicht geschlagen. Frei nach diesem Motto kündigte Ministerpräsident Orbán am Dienstag (30.4.) an, dass die in Besitz des Nationalen Bodenfonds (NFA) befindlichen etwa 500.000 Hektar an landwirtschaftlicher Fläche an private Landwirte veräußert werden. Mit der Sofortmaßnahme soll Orbán zufolge dem Mangel an Produktionsfläche abgeholfen werden, darüber hinaus sollen in erster Linie die Familienbetriebe und übrigen Landwirte vor Ort Boden kaufen können. Die mit der neuen Regierungsbildung beauftragten Sozialisten bezweifeln die Rechtmäßigkeit des Vorhabens und kündigten bereits Gegenschritte an.

"Wir wollen der nächsten Regierung nicht die Möglichkeit geben, landwirtschaftliche Nutzflächen an juristische Rechtspersonen oder Ausländer zu verschachern. Es gibt deshalb nur eine Möglichkeit, wir müssen den Boden jetzt an die ungarischen Landwirte verkaufen, bevor ihn die nächste Regierung anderen zuschanzt" - donnerte Viktor Orbán auf der Pressekonferenz nach der Kabinettsitzung am Dienstag. "Es gibt einige Fragen, wo unsere Vorstellungen über die Zukunft der ungarischen Gesellschaft so weit auseinander gehen, dass ich es als meine moralische und politische Pflicht ansehe, trotz der nun entstehenden Debatten diesen Schritt zu tun." Deshalb solle bereits in der nächsten Woche mit den Ausschreibungen begonnen und innerhalb des vom Gesetz vorgegebenen Zeitraumes von 30 Tagen der Verkauf abgewickelt werden. "Bis dahin werden wir Angebote sammeln und als Staat solche Verbindlichkeiten eingehen, dass es für die nächste Regierung zwar nicht unmöglich, aber doch sehr schwer sein wird, von diesen zurückzutreten."

MSZP (Ungarische Sozialistische Partei - MD) und SZDSZ (Bund Freier Demokraten - MD) reagierten auf die Ankündigung empört und verärgert, in ersten Stellungnahmen wurde gar von einem Amoklauf des Fidesz (Bund Junger Demokraten - MD) gesprochen. Der designierte Ministerpräsident Peter Medgyessy erinnerte Orbán daran, dass dieser vor vier Jahren versprochen habe, alle kurz vor seinem Amtsantritt gefassten Regierungsbeschlüsse gründlich zu überprüfen. Jetzt - betonte Medgyessy - müsse er das Gleiche tun. Der neue Agrarminister Imre Németh wies in Interviews darauf hin, dass eine abgewählte Regierung zu packen, und nicht zu verteilen habe. Für den Fall, sollte der Verkauf der staatlichen Flächen nicht gestoppt werden, kündigte er schon jetzt Gegenmaßnahmen an. "Spätestens vor dem Eintrag beim Katasteramt werde man die Verträge juristisch anfechten und annullieren. Außerdem bezweifle er, dass beim gegenwärtigen Ausschreibungsverfahren die Chancengleichheit für alle Landwirte gewahrt sei. Das System sei derart subjektiv und undurchsichtig, Schiebereien können demnach nicht ausgeschlossen werden. Zudem sei die Institution des NFA noch gar nicht in der Lage, die Transaktionen legal abzuwickeln.

So betonte Róbert Sebestyén, der Geschäftsführer der NFA Kht., noch vor wenigen Wochen, dass die NFA im günstigsten Falle Mitte des Jahres aktiv in den ungarischen Grundverkehr einsteigen könne. Erstaunlicherweise schloss sich auch Ex-Minister József Torgyán den Kritikern an. Der Nationale Bodenfonds sei mit der Absicht gegründet worden, den ungarischen Bodenmarkt besser zu regulieren und nicht um Flächen beim ersten Anlass zu veräußern.

Für den Außenstehenden ist es fast unmöglich, sich ein Urteil zu bilden. Dazu ist der Kuchen zu groß, der Gesamtwert der Flächen wird in vorsichtigen Schätzungen auf rund 150 Mrd. Ft. (ca. 614, 35 Mill. Euro - MD) taxiert.

Die Argumente beider Seiten wirken - solange nicht die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt - sowohl stichhaltig als auch fadenscheinig. Dennoch scheint vieles darauf hinzuweisen, dass der Fidesz hier ein Spiel mit gezinkten Karten betreibt. Nacht- und Nebelaktionen sind immer gut für Insider, eine gründliche Kontrolle der Transaktionen wird unmöglich, die Chancen für einen Amtsmissbrauch steigen.

Noch erschütternder wirkt aber das drohende Szenario für die immer noch am Stock gehende ungarische Landwirtschaft - dass wahrscheinlich in ein bis zwei Monaten wieder einmal Scharen von Juristen darüber zu entscheiden haben, wem denn die auf dem Halm stehende Ernte laut Grundbuch und Verfassung zusteht. (fp)