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Ungarn: Betriebsrat oder Gewerkschaft?

8. November 2004
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Budapest, 8.11.2004, PESTER LLOYD, deutsch

Nur ein Drittel der Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Ungarn glaubt, dass die Betriebsräte einen anerkannten Platz im System der Arbeitsbeziehungen gefunden haben. Zwei Drittel sind der Meinung, dass sich diese gesetzliche Institution auch in zehn Jahren noch nicht konsolidieren konnte.

Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt der Sozialwissenschaftler Béla Benyó in seiner Studie. Die Ergebnisse seiner Erhebung standen im Mittelpunkt einer Konferenz, zu der die Friedrich Ebert-Stiftung Akteure des sozialen Dialogs auf betrieblicher, sektoraler und nationaler Ebene eingeladen hatte. Benyó befragte 5.700 Betriebe des Wettbewerbssektors, die mehr als 50 Arbeitnehmer beschäftigen. Von 2.600 bekam er eine Antwort. Damit konnte die erste gründliche empirische Untersuchung der Partizipation von Arbeitnehmern auf der Unternehmensebene in Ungarn abgeschlossen werden.

In der Hälfte der untersuchten Betriebe gibt es einen Betriebsrat. Benyó weist aber nach, dass die Wahl von Betriebsräten sehr stark von der Größe des Unternehmens und von der Existenz einer betrieblichen Gewerkschaftsorganisation abhängig ist. So haben nur 27 Prozent der Betriebe mit weniger als 100 Beschäftigten, aber 84 Prozent der Betriebe, die mehr als 250 Arbeitnehmer anstellen, einen Betriebsrat gewählt. Und 91 Prozent der Betriebsräte sind in gewerkschaftlich organisierten Unternehmen zu finden, während 9 Prozent ohne gewerkschaftlichen Hintergrund auskommen müssen. Die starke Verflechtung von Betriebsrat und Gewerkschaften spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Betriebsräte wider. Die überwiegende Mehrheit der Räte (70 Prozent) wird von aktiven Gewerkschaftsmitgliedern dominiert, rund 40 Prozent sind sogar ausschließlich mit Gewerkschaftsfunktionären besetzt. Nur 11 Prozent gaben an, in ihrer Tätigkeit völlig unabhängig von den Gewerkschaften zu sein. Der humanpolitische Direktor der Ungarischen Post AG findet, dass "die Gewerkschaften den Betriebsrat wie eine kleine Schwester behandeln, der man vorzuschreiben versucht, was sie zu tun und lassen hat."

Dass die Gewerkschaften trotz ihrer Dominanz den Betriebsräten mit Argwohn und Ängsten begegnen, ist dennoch bis zu einem gewissen Grade verständlich. Schließlich war diese Institution in allen politischen Auseinandersetzungen über Rolle und Funktion der Gewerkschaften nach 1990 Gegenstand heftigen Streits. Die Gewerkschaften sahen in den Betriebsräten ein Instrument in den Händen der Regierung, um den Einfluss der Gewerkschaften zu untergraben und sie von den Arbeitsplätzen zu verdrängen. Vom Ergebnis der Betriebsratsratswahl wurde die Entscheidung darüber abhängig gemacht, welche Gewerkschaft als repräsentativ zu gelten hat. Und 1998 griff die Regierung in das kollektivvertragliche Gestaltungsrecht der Gewerkschaften ein, indem sie Betriebsräten in Unternehmen ohne gewerkschaftliche Vertretung die Vollmacht erteilte, Kollektivverträge abschließen zu können. Wenn auch die alltägliche Praxis nie so bedrohlich ausfiel, wie von den Gewerkschaften befürchtet, änderte das nur wenig an ihrem Misstrauen den Betriebsräten gegenüber.

Von den befragten Arbeitgebern ziehen 42 Prozent die Betriebsräte den Gewerkschaften als Konsultationspartner vor. Offensichtlich sehen sie in diesen "Partner in der Kooperation", während die Gewerkschaften als "Partner in der Konfrontation" wahrgenommen werden. Es ist aber auch anzunehmen, dass ihre nicht sonderlich markanten Rechte die Betriebsräte zu den "einfacheren" Verhandlungspartnern für Arbeitgeber machen. Weder die Gewerkschaften noch die Arbeitgeber sind an einer Stärkung des Betriebsrats als Institution der Arbeitnehmerpartizipation interessiert. Im günstigsten Fall unterstützen sie die Konsolidierung des gegenwärtigen Zustandes, der wohl allen außer den Betriebsräten gefällt. Das kritische Verhältnis von Betriebsräten und Gewerkschaften geht vor allem auf die ungeklärte Definition der betriebsrätlichen und gewerkschaftlichen Rollen- und Funktionsteilung zurück. (...) (fp)