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Ungarn nach dem Machtwechsel

Zoltán Lovas 8. Mai 2002

- Wie stabil wird die neue Regierung?

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Budapest, 6.5.2002, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch

Für die ausländischen Investoren, Analysten oder Politiker mögen in Anbetracht der allgemeinen Unruhe nach den Parlamentswahlen in Ungarn eigentlich nur zwei Fragen von Bedeutung sein: von welchen politischen Kräften und wie stabil wird das kleine mittel-europäische Land in der Legislaturperiode zwischen 2002 und 2006 geführt werden?

Am 21. April stand es fest, dass die zur Regierungsbildung erforderliche Stimmenmehrheit im neuen Parlament, wenn auch nur eine knappe Mehrheit von zehn Mandaten nur von einer MSZP-SZDSZ (Ungarische Sozialistische Partei – Bund Freier Demokraten - MD)-Koalition aufgebracht werden kann. Von den 386 Sitzen im Budapester Parlament erwarb die Fidesz-MDF (Bund Junger Demokraten – Ungarisches Demokratisches Forum - MD)-Allianz 188, während die MSZP und der SZDSZ zusammen 198 Mandate für sich verbuchen konnten. Als geistige Aussteuer kann die sozialdemokratische MSZP die bei der EU-Integration notwendige soziale Empfindlichkeit und der liberale SZDSZ die zur Erlangung der Vollmitgliedschaft erforderliche westliche Offenheit in die neue Koalition einbringen.

Inzwischen geht es schon lange nicht mehr darum, ob der nächste Premier Ungarns Viktor Orbán oder Péter Medgyessy heißt. Eine Entscheidung darüber ist längst gefallen. Jetzt stellt sich schon die kommende Frage: Ist eine parlamentarische Mehrheit von zehn Mandaten ausreichend, damit auch die kommende Regierung vier Jahre lang das Ruder in der Hand behalten kann? Bei einigem Nachdenken und einem Blick zurück in die ungarische parlamentarische Praxis nach der Wende lässt sich diese Frage leicht bejahen. Sogar aus mehreren Gründen.

In den Jahren 1993-94 gab es bereits schon einmal eine Situation in Ungarn, in der die parlamentarische Mehrheit der damaligen konservativen Koalition auf ein einziges Mandat zusammengeschmolzen war. Sogar die konservative Orbán-Regierung war in den letzten anderthalb Jahren nur mit äußerer Unterstützung durch die MIÉP (rechtsextreme Ungarische Gerechtigkeitspartei - MD)-Fraktion in der Lage, die parlamentarische Mehrheit aufrechtzuerhalten. Trotzdem schafften es beide Regierungen, die jeweilige Amtsperiode ohne Sturz zu Ende zu führen.

In Ungarn reicht zur Führung der gewöhnlichen Regierungsgeschäfte und zur Aufrechterhaltung des normalen Lebens bei Abstimmungen im Parlament die einfache Mehrheit aus. Der Kreis der Gesetze, zu deren Verabschiedung oder Änderung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, ist relativ beschränkt. Gesetze mit Zweidrittelmehrheit oder deren Änderungen hat das Orbán-Kabinett in der soeben abgelaufenen Periode nur in Ausnahmefällen im Parlament durchsetzen können.

Meistens ging es dabei um Fälle, in denen das nationale Recht an die EU-Normen angepasst werden musste. Derartige Rechtsharmonisierungen sind auch im kommenden Zyklus fällig. Wegen des Bekenntnisses aller parlamentarischen Parteien zur EU-Integration Ungarns sollte es dabei aber keine größeren Probleme geben. In allen übrigen Bereichen kann dagegen auch mit einfacher Mehrheit regiert werden. Gerade in dieser Praxis bewies das nun scheidende Orbán-Kabinett ein großes Geschick.

In diesem Sinne ist also eine stabile Regierungsarbeit zu erwarten, vorausgesetzt, dass die 178 Abgeordneten der MSZP und die 20-köpfige SZDSZ-Fraktion regelmäßig im von nun an wieder wöchentlich tagenden Parlament erscheinen und über die eingebrachten Vorlagen diszipliniert abstimmen und nicht etwa ihrer Partei oder Fraktion plötzlich den Rücken kehren.

Angesichts der vergangenen Jahre sind die Fraktionen der MSZP und des SZDSZ noch am wenigsten von Gefahren dieser Art bedroht; Abtrünnige und Untreue gab es in ihren Reihen über die ganzen Jahre hinweg kein einziges Mal, im Gegensatz zum Fidesz oder der FKGP.

Die kontinuierliche Aufrechterhaltung der Mehrheit und der Stabilität im Parlament ist lediglich ein Unterpfand der Sicherheit der Gesetzgebung. In konsolidierten bürgerlichen Demokratien würde das vollends zur Aufrechterhaltung einer stabilen Regierungsmacht im ganzen Zyklus ausreichen. Die Frage ist nur, ob Ungarn schon mehr zu den Ländern mit stabiler bürgerlich-demokratischer Rechtsordnung zählt oder eher zu den instabilen Nachfolgestaaten des post-sowjetischen Blocks gehört.

Der Fidesz als Verlierer scheint im Moment ein überaus unangenehmer politischer Gegner zu sein. Sollte er mit der im Laufe der letzten Kampagnewochen angeschlagenen Tonart fortfahren, weiter mit den Rechtsextremen flirten, erneut aufgehetzte Massen auf die Straßen rufen, das Wahlergebnis weiterhin in Frage stellen und pausenlos eine scheinrevolutionäre Stimmung im Lande schüren, könnte ihm sogar das Beibehalten einer dauerhaft gespannten innenpolitischen Situation gelingen.

Die neue sozialliberale Koalition wird wohl alles in ihren Kräften stehende unternehmen, um die aufgebrachten Gemüter wieder zu beruhigen. Sie wird ihre Wahlversprechen einlösen und dadurch für Millionen Bürger die Aussicht auf ein besseres Leben eröffnen. Eine kultivierte, ruhige Tonart und demzufolge kultivierte, ruhige und vor allem erfolgreiche Monate und Jahre stünden Ungarn dann bevor. Wahrscheinlich wird so nebenbei auch das Eine oder Andere über die Günstlingswirtschaft der vergangenen vier Jahre ans Tageslicht kommen.

Die vielleicht doch nicht so pechschwarze sozialliberale Praxis und die vielleicht doch nicht so blütenweiße Weste der rechtskonservativen Politiker könnten dazu beitragen, dass sich bald auch die lautesten Hajrá-Magyarország-Brüller wieder beruhigen und anfangen selbstständig zu denken. So wäre dann hoffentlich bald auch dem für Ungarn verhängnisvollen rechtem Populismus die Massenbasis entzogen oder zumindest auf gesunde, für Demokratien verträgliche Maße reduziert. Das würde die Medgyessy-Regierung stärken und Ungarn den Weg zum EU-Beitritt ebnen. (fp)