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UNICEF: Generation in Trümmern

Nicolas Martin24. November 2015

Fünf Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkrieges sind Millionen von Kindern auf Hilfe angewiesen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen schildert die Situation der Mädchen und Jungen in einem Lagebericht.

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Syrien Konflikt Krieg Bürgerkrieg Zerstörung REUTERS/Khalil Ashawi
Bild: Reuters

Nuha ist elf Jahre und lebt in der vom Bürgerkrieg zerstörten syrischen Stadt Homs. Sie erinnere sich noch genau, wo welches Gebäude stand, erzählt sie UNICEF-Mitarbeitern: "Das war das Haus meiner Freundin Sarah". Nuha ist eines von mehr als acht Millionen syrischer Mädchen und Jungen, das laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen in und außerhalb ihres Heimatlandes auf humanitäre Hilfe angewiesen ist.

Laut dem UNICEF-Lagebericht "Zur Situation der syrischen Kinder im Krieg und auf der Flucht" haben sich die verschärften Kämpfe in Syrien in diesem Jahr auch weiter auf die Kinder ausgewirkt. "Nach fast fünf Jahren Krieg in Syrien liegt das Leben einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen in Trümmern", kommentiert der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, Christian Schneider, die aktuelle Bestandsaufnahme. Der nun heraufziehende Winter würde die Lage vielerorts nun noch verschärfen.

Christian Schneider Unicef Deutschland Foto: Stephanie Pilick/dpa
Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/S.Pilick

"Es gibt keinen sicheren Ort"

Nuha erinnert sich noch genau, wie ihr 19-jähriger Bruder Sa'adou von Granaten getötet wurde, als er Eiscreme kaufen wollte. Solche Erinnerungen können bis ans Lebensende prägend sein, ist sich der Psychologe Jan Kizilhan sicher. "Für die Kinder ist so eine Kriegssituation in mehrfacher Hinsicht eine große Belastung, weil vieles, was sie vorher kannten, völlig aus den Angeln gehoben wird." Hinzu kämen die vielen Gewalttaten, die sich die Kinder anschauen müssten. Laut UNICEF sind seit Beginn des Konflikts 2011 rund 11.000 Kinder getötet worden. Allein im letzten Jahr berichtet die Organisation von rund 60 Angriffen auf Schulen. "Es gibt in ganz Syrien keinen einzigen sicheren Ort für Kinder", so Hanaa Singer, Leiterin von UNICEF Syrien.

Geboren im Flüchtlingscamp

Doch auch für die Kinder, die aus Syrien fliehen, ist das Leid noch lange nicht vorbei. Jan Kizilhan ist eigentlich Professor an der Fakultät für Sozialwesen an der Dualen Hochschule Villingen Schwennigen. Als medizinischer Gutachter war er bis vor kurzem noch im Auftrag des Landes Baden-Württemberg im Irak. Dort hat er auch syrische Flüchtlingskinder untersucht, die sich mit ihren Eltern vor dem "Islamischen Staat" retten konnten. "Manche Kinder nässen sich wegen der traumatisierenden Erlebnisse ein, sie werden aggressiv und verwahrlosen teilweise gänzlich", erzählt er. "Eines der Kinder hat sich jede Nacht hindurch krampfhaft an der Hand der Mutter festgeklammert."

Jordanien Zaatari Flüchtlingslager (Foto: Getty Images/AFP/K. Mazraawi)
Das Zaatari Flüchtlingslager in Jordanien - Schätzungen zufolge leben hier mehr als 80.000 MenschenBild: Getty Images/AFP/K. Mazraawi

Zwei Millionen Jungen und Mädchen leben laut UNICEF in den Nachbarländern Syriens wie dem Irak, der Türkei, dem Libanon oder Jordanien und, zu einem deutlich geringeren Anteil, in Ägypten. Viele sind jahrelang nicht zur Schule gegangen - stattdessen helfen sie ihren Eltern bei der Arbeit. Einigen dieser Kinder ist ihre Heimat gänzlich unbekannt. So sind laut UNICEF mehr als 140.000 Kinder als Flüchtlinge in den Camps an den Grenzen des Heimatlandes ihrer Eltern auf die Welt gekommen.

UNICEF beklagt die Hilfskürzungen vieler Geberländer für die Vereinten Nationen. Die verschlechterte Situation in den Camps und die mittlerweile aussichtslose Perspektive auf Frieden seien ein Hauptgrund für viele Syrer, die Flucht nach Europa nun doch zu wagen. Wegen der finanziellen Kürzungen musste beispielsweise das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen im September rund 360.000 syrischen Flüchtlingen im Libanon und in Jordanien die Nahrungsmittelhilfe streichen.

Flucht manchmal schlimmer als der Bürgerkrieg

In der Bestandsaufnahme geht das UN-Kinderhilfswerk davon aus, dass knapp zwei Drittel der Flüchtlinge auf der Balkanroute aus Syrien stammen. Die Organisation sieht eine wachsende Zahl von Kindern, die alleine reisen. So sei an der mazedonischen Grenze eines von vier registrierten Kindern ohne Eltern unterwegs.

Balkan Flüchtlinge ROBERT ATANASOVSKI/AFP/Getty Images)
Flüchtlinge auf der Balkan-RouteBild: Getty Images/AFP/R. Atanasovskia

Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge seien besonders von Gewalt und Ausbeutung bedroht. UNICEF-Mitarbeiter berichten von Übergriffen an Kindern und Frauen in Notunterkünften, Parks, Busstationen oder Bahnhöfen. Das Hilfswerk hat deshalb gemeinsam mit anderen Organisationen in Mazedonien, Kroatien und Serbien "kinderfreundliche Orte" und "Zonen für Mütter und Kleinkinder" innerhalb der wichtigsten Registrierungsstellen und Aufnahmelager eingerichtet.

"Ich habe Fälle untersucht, bei dem nicht das Ereignis in Syrien die Kinder traumatisiert hat, sondern die Flucht von einem bis anderthalb Jahren, bei der sie unter Brücken schliefen, gehungert haben und oft nicht wussten, wie es weitergeht", sagt auch Jan Kizilhan. Nach UNICEF-Angaben haben bis September dieses Jahres mehr als 200.000 Kinder und Jugendliche in der EU Antrag auf Asyl gestellt.

In Deutschland sind in diesem Jahr bis Oktober 30.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge angekommen. Hinzu kommt die wesentlich höhere Zahl von Kindern, die mit ihren Eltern eingereist sind. Auch wenn sie sich in Deutschland nun erst mal in Sicherheit befänden, müsste noch viel bei der Unterbringung und den psychosozialen Angeboten geschehen, empfiehlt der UNICEF-Bericht. Laut Kizilhan fehlen in Deutschland aber schlichtweg die Fachkräfte, um die vielen traumatisierten Kinder zu betreuen.

Jan Kizilhan Traumatatherapie Copyright: Jan Kizilhan
Psychologe Jan KizilhanBild: Jan Kizilhan

Rund 4000 Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt, in Homs, besucht die elfjährige Nuha nun ein von UNICEF eingerichtetes Zentrum. Dort kann sie spielen und lernen und baut - so berichtet es UNICEF - langsam ihre Agressionen ab. Doch noch immer hoffe sie, dass ihr älterer Bruder Sa'adou eines Tages mit dem Eis um die Ecke komme.