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Union bremst Brüderle bei Zuwanderung aus

20. Januar 2011

Zwar wird der Druck der boomenden deutschen Wirtschaft stärker, freie Stellen in Deutschland mit Fachkräften aus dem Ausland zu besetzen. Doch eine Bundestagsdebatte zeigt: Union und FDP können sich nicht einigen.

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Junge indische Laborantin mit Reagenzglas in der Hand (Foto: dpa) Foto: dpa
Gefragt auf dem deutschen ArbeitsmarktBild: picture alliance/Dinodia Photo Library

Ginge es nach den oppositionellen Grünen, dann würde Deutschland über kurz oder lang seine Zuwanderung so regeln wie Kanada, die USA oder Großbritannien es tun: Nämlich mit einem Punktesystem, in dem sich Einwanderer durch Bildungsabschluss, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse, Alter und Herkunft für den deutschen Arbeitsmarkt empfehlen. Der Grünen-Politiker Memet Kilic forderte am Donnerstag (20.01.2011) im Bundestag die regierende Union auf, ihren Widerstand gegen solch ein international erfolgreiches Modell aufzugeben: "Ideologische Blindheit hilft nicht, sondern schadet unserem Land."

Der Grünen-Antrag auf Einführung eines Punktesystem zur Steuerung der Zuwanderung wurde zwar im Bundestag erwartungsgemäß abgelehnt, doch er führte dem Publikum vor: Auch in dieser Frage ist die Koalition gespalten. Anders als die Grünen vermieden es die Liberalen, ihren Regierungspartner offen zu attackieren. Doch auch sie forderten, den Rückstand Deutschlands im Wettbewerb um die besten Köpfe in der Welt aufzuholen.

Nach Deutschland nur mit Anwalt

Ihn überzeuge ein Punktesystem, sagte in der Bundestagsdebatte der FDP-Arbeitsmarktpolitiker Johannes Vogel, weil es in Kanada so erfolgreich sei. Der Anteil der Hochqualifizierten unter den Zuwanderern liege in Kanada bei 59 Prozent, in Deutschland bei 22 Prozent.

Kein Wunder, so Vogel, denn wenn sich ein junger Vietnamese dafür interessiere, in ein anderes Land zu gehen, habe er auf der einen Seite ein System wie in Kanada, wo er in fünf Minuten auf der Homepage der Botschaft ermitteln könne, ob er zuwandern kann oder nicht: "Oder er findet ein System, wie wir es heute haben, wo er erst den Stellenteil einer deutschen Tageszeitung wälzen muss und dann möglicherweise noch anwaltliche Beratung braucht, wie er hier herkommen kann. Das kann nicht so bleiben, deshalb brauchen wir ein einfacheres System."

Brüderle sitzt die Wirtschaft im Nacken

Im Eingangsbereich des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg (Fotograf: dpa)
Die entscheidende Behörde für ZuwandererBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Bei der Union stoßen die liberalen Wünsche auf taube Ohren. Zwar erklärte der liberale Wirtschaftsminister Rainer Brüderle diese Woche auf Nachfrage in Berlin, der Koalitionsausschuss von Union und FDP werde das Thema " in den nächsten Wochen und Monaten wieder anpacken". Doch man solle sich "lieber etwas mehr Zeit nehmen". Ganz anders während einer Kanada-Reise im November letzten Jahres: dort hatte Brüderle, begeistert vom dortigen Modell, eine baldige Entscheidung in Deutschland gefordert.

Brüderle sitzt die Wirtschaft im Nacken. Die deutsche IT-Branche meldet in diesem Jahr rund 35.000 offene Stellen für Fachleute. Ebenso viele fehlen in Ingenieurberufen, in der Pflegebranche sind es sogar 50.000. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sieht wegen der schrumpfenden Arbeitsbevölkerung bis 2030 einen zusätzlichen Bedarf von vier bis fünf Millionen Fachkräften in Deutschland. Mittlerweile sind sogar Vertreter der Gewerkschaften, die stets ausländische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt fürchten, von diesen Fakten beeindruckt. Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, hält angesichts des Fachkräftemangels in sozialen Berufen ein Punktesystem wie in Kanada oder Australien für sinnvoll.

Für die Union ist Kanada kein Modell

Doch innerhalb der Regierungskoalition beharren CSU und große Teile der Union auf einem Nein und führen viele Gründe ins Feld. Bayerns Arbeitsministerin Christine Haderthauer überraschte mit einem "Welt"-Interview, indem sie den deutschen Unternehmen "befristete Arbeitsverträge, unflexible Arbeitszeitmodelle und unbefriedigende Gehälter" vorwarf. Der Fachkräftemangel sei deshalb in Wirklichkeit "ein Mangel an Arbeitnehmern, die bereit sind, zu diesen Bedingungen zu arbeiten". Fast wortgleich sprach übrigens im Bundestag die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen von einem "Mangel an gut bezahlter Arbeit".

Eine Pflegekraft macht in einem Seniorenzentrum in Hamburg einen Transfer mit einer Pflegehausbewohnerin aus ihrem E-Rollstuhl in ihr Bett (Foto: dpa)
In der Pflegebranche fehlen die meisten FachkräfteBild: picture-alliance/dpa

Auch für den Unionsinnenpolitiker Wolfgang Bosbach ist es vorrangig, arbeitslose Inländer in einen Job zu bringen. Bosbach warf den Befürwortern eines Punktesystems vor, sie wollten die Verknüpfung von Einwanderung und konkretem Arbeitsplatz aufheben. Werde dann ein Zuwanderer arbeitslos, belaste er das deutsche Sozialsystem. Das sei in den USA oder Kanada anders. Die Zuwanderung in den dortigen Arbeitsmarkt funktioniere gerade deshalb, "weil diejenigen, die in diese Länder gehen, genau wissen, dass weder die USA noch Kanada daran denken, Sozialleistungen zu zahlen, ohne dass vorher durch Erwerbstätigkeit Leistungen in die sozialen Sicherungssysteme eingebracht wurden".

Warten auf den Mai

Der parlamentarische Staatssekretär im CDU-geführten Bundesinnenministerium Ole Schröder deutete in der Parlamentsdebatte an, man könnte für Branchen, in denen großer Fachkräftemangel herrscht, zeitweilig die sogenannte Vorrangprüfung außer Kraft setzen. Dies hatte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen vorgeschlagen. Die Arbeitsagenturen sollten darauf verzichten, jedes Mal aufwendig zu prüfen, ob statt eines Zuwanderers aus "Drittstaaten" ein Deutscher oder ein EU-Bürger für den jeweiligen Job zur Verfügung steht.

Im Übrigen verweist die Regierung jedoch darauf, dass im kommenden Mai entsprechend dem Vertrag von Nizza der deutsche Arbeitsmarkt für eine Reihe von osteuropäischen EU-Staaten geöffnet wird. Man wisse noch nicht, wie viele Fachkräfte von dort einwandern würden.

Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Kay-Alexander Scholz