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Geschichte auf dem Balkan

4. März 2011

Die Geschichte werde auf dem Balkan gerne als Kampfmittel eingesetzt, sagt der bulgarische Historiker Krastyo Mantschev im Interview mit DW-WORLD.DE. Er fordert mehr Fakten statt Interpretationen.

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Mikrofon mit DW-Logo Interview (Foto: dpa/Montage DW)
Bild: dpa/Montage DW

DW-WORLD: Was kritisieren Sie an der Geschichtsschreibung in Bulgarien, aber auch auf dem Balkan?

Krastyo Mantschev: Immer noch leidet unsere Geschichtsschreibung an sowohl ideologischer als auch nationalistischer Befangenheit. An letzterem leiden auch die Historiker in unseren Nachbarländern. Alle scheinen, die eigenen Leistungen hervorzuheben und gleichzeitig die Nachbarn zu beschimpfen. Dies ist aber weder europäisch noch zukunftsträchtig.

Wir nehmen beispielsweise das Osmanische Reich so wahr, wie es von den Nationalrevolutionären im 19. Jahrhundert und später in der bulgarischen Geschichtsschreibung dargestellt wurde. Die Wahrheit sieht aber ein bisschen anders aus. Das Osmanische Reich war kein Sklavenhalterland, sondern eher ein Feudalstaat. In diesem Reich gab es zwar Sklaven, aber die wurden nur vereinzelt als Diener eingesetzt. Ja, die Stammbevölkerung, die Rajah, war abhängig.

Abhängigkeit und Sklaverei sind allerdings zwei Paar Schuhe. Der Sklave hat kein Eigentum, er ist Eigentum des Sklavenhalters. Im Vergleich dazu verfügten die Bauer über eigenes Land, ihre Bauernhöfe waren voll von Kindern und Gütern und das Reisen durch die Welt war auch erlaubt. Das Osmanische Reich erstreckte sich von Diyarbakir bis Wien, es gab keine Staatsgrenzen. Der Bulgare jener Tage konnte sich in Bukarest, Smyrna oder Thessaloniki aufhalten, konnte ein eigenes Geschäft aufmachen, ein Handwerk erlernen und Handel betreiben. Damals gab es auch sehr reiche Bulgaren.

Welche Veränderungen schlagen Sie vor?

Die Geschichte ist wie ein türloses Haus. Jeder kann jederzeit reingehen und sich frei bedienen. Es kommt aber bisher hier immer darauf an, dass das Ausgewählte die eigenen Leistungen hervorhebt und die Nachbarn diffamiert. Deswegen kann von objektiver Wissenschaft nicht die Rede sein. Es ist an der Zeit, die Geschichte objektiv zu lesen. Das heißt, mehr Fakten und weniger Interpretation, ohne dass die Deutung zu eigenen Gunsten benutzt wird. Die Geschichte braucht ein klares Wort, um sie lehren zu können.

Erwarten Sie von der zukünftigen Europäisierung des Balkans eine rasche Milderung der historischen Gegensätze?

Ich arbeite daran und hoffe, dass diese Entwicklung in der Zukunft in der Tat stattfinden wird. Es kann ja nicht sein, dass wir seit Jahrhunderten gegeneinander um Vorherrschaft kämpfen und unermüdlich versuchen, diese Halbinsel zu zerstückeln. Das hat keine Zukunft.

Ich hoffe, an einem fernen Tag den Balkan als eine zivilisierte Region erleben zu können. Sowohl bei uns als auch bei unseren Nachbarn stellt die Außenpolitik bis heute immer die höchste Priorität dar. Unser gemeinsames Hauptziel war immer, etwas zu erobern. Groß ist aber nicht derjenige, der über viel Territorium verfügt. Groß ist derjenige, der den eigenen Boden gut bebaut. Und unser Boden liegt seit langer Zeit brach.

Interview: Georgi Papakotschev

Redaktion: Mirjana Dikic/ Nicole Scherschun