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Unter der Lupe

Udo Bauer21. Oktober 2004

Keine Wahl in der amerikanischen Geschichte wird so intensiv beobachtet, wie die Präsidentschaftswahl 2004. Das Debakel von 2000 soll sich nicht wiederholen. Wird es aber - wenn auch in anderer Form.

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Udo Bauer

Es ist nicht so, als ob nichts geschehen sei in den vergangenen vier Jahren. Viele Wahlkreise haben enorm investiert in neue Technik, um die peinliche Lochkarten-Nachlese à la Florida 2000 auszuschließen. Viele unabhängige Organisationen sind entstanden, die die Reformanstrengungen
kritisch begleiten. Last but not least: Der US-Kongress hat vor zwei Jahren den "Help-America-Vote-Act" (HAVA) beschlossen, ein richtungweisendes Gesetz zur Reform des US-Wahlsystems.

Im Zweifel für den Wähler

Dank des HAVA-Gesetzes wurden unter anderem Bundesgelder bereitgestellt für die Verbesserung der Wahltechnik. Außerdem wurde den lokalen Wahlkommissionen empfohlen, die so genannte provisorische Stimmabgabe zuzulassen. Sie bedeutet, dass ein Wahlwilliger auch dann wählen kann, wenn sein Name nicht auf dem Wählerregister im Wahllokal auftaucht. Die Devise lautet also: Im Zweifelsfall für den Wähler. Überprüft wird die Gültigkeit der Stimme dann nach dem Wahltag.

Das war vor vier Jahren ganz anders. Da wurden zehntausende Wähler kurz vor der Urne einfach abgewiesen, weil ihre Namen nicht aufzufinden waren. Möglicherweise standen sie auf der Liste anderer Wahllokale oder anderer Wahlbezirke, aber ihr Wahlrecht ausüben konnten die Betroffenen deshalb nicht. Das kann auch diesmal wieder passieren, denn nicht alle Bundesstaaten haben sich der HAVA-Empfehlung angeschlossen.


Entscheidung vor Gericht


Aber trotz aller Verbesserungen mehren sich die Anzeichen dafür, dass auch die Wahl 2004 nicht in der Wahlnacht vom Wähler, sondern erst nach Wochen vor dem Obersten Bundesgericht in Washington entschieden wird. Schon jetzt sind Klagen anhängig gegen elektronische Wahlmaschinen mit Touch-Screen-Technik, weil die keinen Papierausdruck produzieren und somit eine Nachzählung im klassischen Sinne unmöglich machen. Es gibt Prozesse gegen spezifische Registrierverfahren, für zusätzliche Wahllokale, und, und, und. Nun ist es zwar möglich, dass diese Verfahren vor dem Wahltag am 2. November 2004 zum Abschluss gebracht werden. Sie verwirren aber unter Umständen die Wahlverantwortlichen vor Ort so sehr, dass die Fehlentscheidungen treffen, die dann wiederum Anlass dazu geben könnten, die Wahl anzufechten. Und Beobachter gibt es jetzt in nahezu jedem Wahllokal, zumindest in den Bundesstaaten, in denen ein knappes Wahlergebnis erwartet wird.


Armeen von Anwälten


Da ist einmal die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE, die in diesem Jahr der Einladung aus Washington gefolgt ist und über 100 Wahlbeobachter nach Amerika geschickt hat. Da sind die Bürgerrechtsgruppen, die mit insgesamt 6000 Anwälten bzw. Jurastudenten ein besonderes Auge auf die Wahlrechte von Minderheiten werfen. Und da sind Armeen von Anwälten beider politischer Parteien.

Allein die Demokraten haben nach Angaben der US-Zeitung "Washington Post" am Wahltag mehr als 10.000 Anwälte in den Staaten mit ungewissem Wahlausgang, den so genannten Swing States, davon allein 2000 in Florida. Die Anwalts-Armada der Republikaner ist in der Lage, insgesamt 30.000 Wahllokale zu überwachen. Die republikanischen Rechtsexperten werden darauf achten, dass das Wahlrecht buchstabengetreu eingehalten, sprich nicht gedehnt oder überinterpretiert wird. Die Demokraten sammeln Material, um gegebenenfalls nachzuweisen, dass (demokratische) Wähler an der Abgabe ihrer Stimme gehindert wurden – jedenfalls, wenn die Republikaner vorne liegen. Doug Chapin, Chef der Wahlbeobachter von "ElectionLine.org", sagt in dieser explosiven Gemengelage voraus, dass es gar nicht sein kann, "dass der Wahltag vorüber geht, ohne dass irgendwo massive Probleme auftauchen."


Verzögerungen sind programmiert


In insgesamt dreizehn Bundesstaaten wird ein äußerst knapper Wahlausgang erwartet. Wenn es dort also dreizehn Mal heißt "too close to call", weil das Stimmenauszählen ein zu knappes Ergebnis geliefert hat, um den Gewinner zu benennen, dann muss gewartet werden bis die provisorischen Stimmen verifiziert und die letzten Stimmen aus Übersee angekommen sind.

Hinzu kommt eine Besonderheit im Bundesstaat Colorado. Hier wird am Wahltag nicht nur über die Präsidentschaft entschieden, sondern gleichzeitig über ein Referendum. Dort muss festgelegt werden, ob die neun
Wahlmännerstimmen des Staates wie bisher allein an den Kandidaten mit den meisten Stimmen gehen ("Winner-takes-it-all"-Prinzip), oder ob sie nach Stimmanteilen zwischen beiden Kandidaten aufgeteilt werden. Das Ergebnis der Volksbefragung soll sofort, also schon für die gerade gelaufene Wahl, Anwendung finden. Vieles kann also Wahl entscheidend sein bei dieser Wahl, und dementsprechend kann und wird vieles angefochten werden. Freuen wir uns auf lange, unterhaltsame Wahlnächte!