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Unterschiede im geeinten Deutschland akzeptieren

Verica Spasovska 3. Oktober 2005

Bei den Wahlen wurde es ebenso deutlich wie bei den monatlichen Arbeitslosenstatistiken: Nach 15 Jahren Deutscher Einheit sind die Unterschiede zwischen Ost und West gewaltig. Ein Kommentar von Verica Spasovska.

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"Blühende Landschaften", so lautete das Versprechen, als vor 15 Jahren die deutsche Einheit vollzogen wurde. Die hochgesteckten Erwartungen sind längst verflogen, die Bilanz ist eher ernüchternd. Die Folgen lassen sich zum Beispiel bis heute in der so genannten Abwanderungsstatistik ablesen: Noch immer verlassen jedes Jahr mehr Menschen den Osten der Republik in Richtung Westen als umgekehrt. Seit der Wiedervereinigung hat Ostdeutschland fast eine Million Einwohner verloren. Eine Zahl, die sich nicht schönreden lässt und die ein verdrängtes Problem der Wiedervereinigung ins Blickfeld rückt: Ostdeutschland verliert vor allem junge Menschen, weil diese auf dem Arbeitsmarkt wenig Perspektiven sehen. Die Städte und Gemeinden werden immer leerer, das Bildungsniveau sinkt, die Steuereinnahmen der ostdeutschen Länder und Kommunen fallen und qualifiziertes Personal fehlt allenthalben. Nirgendwo in Deutschland werden so wenige Kinder geboren, wie in den neuen Ländern. Die Demographen schlagen Alarm.

90 Milliarden Euro Aufbauhilfe

15 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es statt blühender Landschaften noch immer eine Riesenbaustelle, an der mehr oder weniger ratlos herumgewerkelt wird. Ein Zustand, der gewiss nicht durch mangelnde Solidarität hervorgerufen wurde. Denn jedes Jahr fließen etwa 90 Milliarden Euro vom Westen in den Osten. Das ist eine großzügige Aufbauhilfe, die noch bis ins Jahr 2020 anhalten soll. Viele Wirtschaftsexperten sehen darin übrigens einen Hauptgrund für die schwächelnde gesamtdeutsche Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit. Und diese Probleme werden wohl solange bestehen, solange Ostdeutschland wirtschaftlich nicht auf eigenen Beinen steht.

Kein Zweifel, das Geld für den Aufbau Ost ist notwendig. Die Kernfrage lautet allerdings, wie effektiv die Gelder verwendet werden. Ökonomen verlangen von der Politik längst eine Kurskorrektur und fordern, das Geld vermehrt in Investitionen zu stecken, statt damit unproduktiven Konsum zu finanzieren. Statt ein "weiter so wie bisher" brauchen wir eine offene und schonungslose Analyse, über das, was realistischerweise an Aufbau möglich ist. Konkret: Bis zu welchem Punkt das ursprünglich anvisierte Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland eigentlich weiterverfolgt werden soll. Einer solchen Diskussion sind viele Politiker bisher ausgewichen - sie könnte ja Wählerstimmen kosten!

Im Osten ist sehr viel geschehen

Selbstverständlich besteht die Bilanz der vergangenen 15 Jahren keineswegs nur aus Defiziten. Im Osten der Republik ist sehr viel geschehen. Die Infrastruktur ist komplett erneuert, die Innenstädte weitgehend saniert, punktuell - wie etwa in Leipzig - sind leistungsfähige Industriezentren entstanden. Moderne Autos, Farbfernseher, Kühlschränke und Urlaubsreisen sind für Ostdeutsche genau so selbstverständlich geworden wie sie es im Westen schon lange waren. Und vor allem: Die Freiheit, die mit dem Fall der Mauer gewonnen wurde, ist ein Gut, das alle Opfer wert ist.

15 Jahre haben aber keineswegs gereicht, um die 40 Jahre lang geteilte Nation nahtlos miteinander zu verschmelzen. Das Trennende verblasst, aber doch viel langsamer als viele Menschen wahrhaben wollen. Noch immer sehen mehr als die Hälfte der Westbürger die Ostdeutschen als Profiteure der Einheit und halten sie für undankbar, obwohl der Westen doch so viele Opfer auf sich nehme. Im Osten glaubt hingegen mehr als ein Drittel der Bürger, dass die Menschen im Westen die Nutznießer der Wiedervereinigung seien. Viele fühlen sich bevormundet: Man habe ihnen einfach das westdeutsche Gesellschaftsmodell übergestülpt und selbst die positiven Errungenschaften der DDR - Stichwort "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" - abgeschafft. Befindlichkeiten, über die nicht allzu gerne öffentlich gesprochen wird, aus Angst die Neiddebatte zwischen Ost- und West noch weiter anzufachen, aus Angst zum Feind der Einheit abgestempelt zu werden.

Mehr Gelassenheit

Dabei täte der Debatte ein bisschen mehr Gelassenheit gut. Zum einen sieht trotz aller Diskussionen über den Zustand des geeinten Deutschlands die überwältigende Mehrheit der West- und Ostdeutschen die Wiedervereinigung positiv. Zum anderen ist es eine Illusion, dass 40 Jahre unterschiedlicher Entwicklung spurlos am Land und an den Menschen vorübergehen. Warum fällt es so schwer zu akzeptieren, dass es Unterschiede gibt? Unterschiede sowohl im Denken und Fühlen der Bürger, als auch Unterschiede in den konkreten Lebensbedingungen der Menschen. Vielleicht, weil man sich auf diese Möglichkeit in Deutschland bisher nicht eingerichtet hat. Es wäre an der Zeit, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen.