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Die unsterbliche Spinne in der Yuccapalme

28. Dezember 2011

Es gibt Dinge, die sind nicht tot zu kriegen. Moderne Sagen gehören dazu: von der Spinne in der Yuccapalme bis zu Orangen, die mit Quecksilber vergiftet werden. Immer soll es der Freund eines Freundes erlebt haben.

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Yucca-Palme (Foto: DW)
Bild: picture-alliance/Arco

Es passierte in einem Café vor wenigen Wochen: Eine Frau erzählt ihrer Tischnachbarin, im Kölner Zoo sei etwas unglaublich Lustiges passiert. Eine Kita-Gruppe habe eine Führung durch das Pinguin-Gehege gemacht und zurück in der Kita, tropft es aus dem Rucksack eines kleinen Jungen. Als die Erzieher nachschauen, steckt ein Pinguin drin und machte große Augen. Der Junge sagt, er habe ihn mitgenommen, "weil der soooo süß sei!"

Eine Humboldtpinguin-Dame im Zoo am Meer in Bremerhaven (Foto: dpa)
Leben gefährlich: PinguineBild: dpa

Man kann das glauben. Man kann es auch lassen. Aber man erzählt es gerne weiter. Es wäre ja theoretisch möglich, und wer ruft schon im Kölner Zoo an, um zu hören, dass es zwar möglich, aber sehr, sehr unwahrscheinlich sei, da Pinguine extrem wehrhafte Tiere sind? Wer die Schlagworte allerdings einmal googelt, findet heraus, dass der verschreckte Pinguin zuletzt 2008 durch das Rheinland getragen wurde, dass die Geschichte schon seit 1993 durch die Welt reist und alles in Großbritannien angefangen hat. Der Pinguin ist eine "urban legend", eine moderne Sage, eine "sagenhafte Geschichte von heute", wie Erzählforscher sie korrekt nennen.

Erst ist Alltag – dann passiert was Unerhörtes

Wenn man wissen will, warum sie so hartnäckig lebendig bleibt, kann man Rolf Wilhelm Brednich anrufen. Er hat fünf Bücher über moderne Sagen herausgegeben und mehr als 700 unterschiedliche Geschichten gesammelt, kommentiert und sortiert. Die Geschichte vom geklauten Pinguin hat er zwar noch nie gehört, aber er ahnt, warum sie so gerne erzählt wird: "Ein guter Erzähler, der eine gute Geschichte auf Lager hat, hat auch sein Auditorium und bekommt dadurch Ansehen in dieser kleinen Runde von Erzählern und Zuhörern."

Frau schwimmt auf rosa Luftmatratze im Meer (Foto: Fotolia)
Sieht harmlos aus - aber gleich könnte vielerlei Unerhörtes passieren...Bild: Fotolia/siart

Diesen Effekt haben moderne Sagen genauso wie Märchen. Im Gegensatz zu denen spielen sie allerdings nicht völlig im Reich der Phantasie. Sie gehen, so Rolf Brendich, aus dem Alltag hervor und können deshalb für wahr gehalten werden, "weil sie einen ganz natürlichen Ausgangspunkt haben: Menschen fahren in den Urlaub oder gehen ins Restaurant. Diese Alltagssituation schlägt dann irgendwann um und etwas ganz Unerwartetes passiert. Ein Überraschungsmoment." Die gute Pointe eben.

Von Mund zu Ohr zu Telefon durchs Netz...

Dadurch, dass der Erzähler beteuert, er habe diese Geschichte von der Bekannten eines Freundes gehört, und da er mit seiner Person für ihre Glaubwürdigkeit einsteht, ist man auch versucht, sie zu glauben. Vielleicht nicht unbedingt den geklauten Pinguin, aber folgende Geschichte balancierte so geschickt zwischen "gut möglich" und "kann nicht sein", dass schließlich sogar die Polizei ermittelte: In Köln soll vor zwei Jahren, kurz vor Karneval, ein arabisch aussehender Mann auf der Straße seine Brieftasche verloren haben. Ein Spaziergänger bemerkt es, hebt sie auf und gibt sie dem Mann zurück. Der bedankt sich und entschuldigt sich, er können dem Finder leider keinen Finderlohn geben, aber einen guten Rat habe er für ihn: er soll am Rosenmontag nicht zum Umzug gehen, das passiere etwas.

Karnevalisten feiern in Düsseldorf auf der Königsallee (Foto: dpa)
Sieht lustig aus - aber irgendwo könnte natürlich eine Bombe versteckt seinBild: picture alliance/dpa

"Da haben Sie alles, was solch eine Geschichte haben muss.", lacht Helmut Fischer. Der emeritierte Germanistikprofessor hat ihre Entwicklung damals verfolgt. Die Polizei habe ermittelt, bis die gleiche Geschichte plötzlich auch in München und in Oberhausen aufgetaucht sei und bald klar war, dass sie jeglicher Tatsachen entbehrt. Den Ursprung der meisten modernen Sagen könne man selten ermitteln, so Fischer, der ebenfalls einen Sammelband mit den phantastischen Geschichten herausgebracht hat. Das liege vor allem daran, dass sie sich so schnell verbreiten. Selbst ohne Internet hat es bei einem Feldversuch in den 1980er Jahren nur eineinhalb Tage gedauert, bis es eine vorsätzlich in die Welt gesetzte Geschichte von Kalifornien nach New York geschafft hatte.

Ein verschwundener Anhalter macht Karriere

Die Geschichte der Warnung vor dem Rosenmontagszug drückt allerdings Ängste und Unsicherheiten aus. Das sei oft so bei modernen Sagen, so Brednich und Fischer. Zusammen mit ihren Forscherkollegen haben sie die zahlreichen Sorten thematisch grob eingeordnet: in moderne Sagen, die etwas mit Erfindungen und Technik zu tun haben, Sagen, in denen es um Beziehungen geht, in denen Tiere eine Rolle spielen oder Reisen ins Ausland. Da werden dann ahnungslosen Deutschen in Polen die Reifen geklaut und wieder zum Verkauf angeboten. Urlauber schlafen an türkischen Stränden ein und wachen mit einer Niere weniger wieder auf. Und als AIDS aufkam, kursierten plötzlich Geschichten in denen HIV-Infizierte andere aus Rache absichtlich anstecken, indem sie Kinosessel mit benutzten Spritzen präparieren oder im Urlaub unschuldige Mädchen verführen.

Vanja Apostolova - Weltreisende per Anhalter (Foto: Vanja Apostolova)
Noch steht sie da - aber wer weiß, was sie verbirgtBild: Vanya Apostolova

Die am besten erforschte und bis heute am erfolgreichsten erzählte moderne Sage ist übrigens nicht die von der exotischen Spinne in der Yuccapalme oder dem Rattenzahn in der Pizza, sondern die vom verschwundenen Anhalter. Sie existierte in interessanten Varianten bereits im 19. Jahrhundert in Schlesien und machte in den 1980er Jahren in Deutschland so die Runde:

Eine junge Frau wird in der Tiefgarage eines Kaufhauses in Braunschweig von einer älteren Dame gebeten, sie mitzunehmen, weil sie ihren Bus verpasst habe. Als die ältere Dame ins Auto steigt, bemerkt die junge Frau, dass sie an Händen und Armen sehr behaart ist, und wird misstrauisch. Sie bittet die Dame noch mal auszusteigen, um ihr beim Ausparken zu helfen und fährt dann schnell davon. Zu Hause angekommen entdeckt sie im Auto die Plastiktüte, die die ältere Dame bei sich hatte – darin liegt ein Beil. Sie meldet das der Polizei und erfährt, dass ein Frauenmörder gesucht wird, der seine Opfer mit einem Beil tötet.

Kurz, ungewöhnlich, lokaler Bezug, gute Pointe und: es ist der Bekannten einer Freundin passiert - Weitererzählen! Die Geschichte holt einen schneller wieder ein, als man den Pinguin in den Rucksack gesteckt hat.

Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Gudrun Stegen /Ba