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Urteil im Chodorkowskij-Prozess verschoben

28. April 2005

Für Mittwoch war das Urteil über den ehemaligen Yukos-Chef Chodorkowskij erwartet worden. Doch statt eines Urteils gab das Moskauer Gericht eine Verschiebung der Urteilsverkündung auf Mitte Mai bekannt.

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Arbeitslager oder Freispruch? Sein Schicksal wird sich erst im Mai entscheidenBild: dpa

Die mit Spannung erwartete Verkündung der Urteile gegen den früheren Chef des russischen Ölkonzerns Yukos, Michail Chodorkowskij, und seine Ex-Geschäftskollegen Platon Lebedew und Andrej Krajnow ist auf den 16. Mai verschoben worden. Das teilte das zuständige Gericht in Moskau am Mittwoch (27.4.2005) in einem lapidaren Aushang mit. In Nachrichtenagenturen heißt es, dass die Richterin Irina Kolesnikowa die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht abgeschlossen habe. Angesichts des Mega-Prozesses mag diese Begründung gar nicht so abwegig klingen. Denn der Prozess läuft seit knapp einem Jahr. Dem einst reichsten Mann Russlands droht wegen Unterschlagung, Steuerhinterziehung und Betrugs eine Höchststrafe von zehn Jahren.

Politische Gründe

Dennoch dürften die Gründe für die Verschiebung nicht hauptsächlich in der bürokratischen Bearbeitung des Falles liegen. Für die plötzliche Verschiebung des Urteils spielen wohl eher andere - politische - Gründe eine Rolle.

Russlands Präsident Wladimir Putin befindet sich derzeit auf einer Nahost-Reise und wird zu einem historischen Staatsbesuch in Israel empfangen. Eine Urteilsverkündung - gemeinhin wird mit einer schweren Strafe gerechnet - gegen Michail Chodorkowskij hätte der Reise einen heftigen Image-Schaden bereiten können. Denn Chodorkowskij hat nicht nur jüdische Wurzeln, sondern in Israel lebt auch sein langjähriger Geschäftspartner Leonid Newzlin, dem in Moskau dieselben Straftaten vorgeworfen werden wie Chodorkowskij. Newzlin hatte im Vorfeld des Putin-Besuchs im Falle einer Urteilsverkündung gegen Chodorkowskij eine Veröffentlichung von dem Kreml unliebsamer Fakten angekündigt. Unabhängig von dem Gehalt dieses "kompromittierenden Materials" kann Präsident Putin seine Israel-Reise besser darstellen, solange noch kein Urteil gegen Chodorkowskij gefällt worden ist.

Kursänderung eingeleitet?

Ein weiterer Grund - sicherlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr spekulativer Natur - könnte mit Putins Rede zur Lage der Nation am vergangenen Montag zusammenhängen. Putin hat sich dabei stark gemacht für eine Entwicklung der russischen Demokratie und einer freien Marktwirtschaft. Dabei will er sich nach eigenem Bekunden an europäischen Idealen orientieren. In seiner Rede warb er um das Vertrauen internationaler Investoren und forderte mehr Zurückhaltung der russischen Steuerbehörden gegen russische Unternehmer: Er sprach sogar ausdrücklich davon, dass "die Steuerbehörde nicht das Recht habe, Unternehmen zu terrorisieren". Zugleich sprach er sich für eine Verjährungsfrist von drei Jahren für die Anfechtung von Privatisierungen aus.

Instruktionen aus dem Kreml

Diese klaren Worte strafen den bisherigen Prozess gegen Chodorkowskij mit Hohn. Entweder haben Putins Worte nun die Richterin im Chodorkowskij-Prozess nur verunsichert und sie bedarf nun neuer Instruktionen aus dem Kreml, oder es steckt sogar noch mehr dahinter: Putin, der nicht nur einmal Russland und die Welt mit Kursänderungen überrascht hat, hat mit seiner Rede zur Lage der Nation eine weitere Kursänderung eingeleitet, die für Chodorkowskij ein mildes Urteil bedeuten würde. Das, was der Kreml im ganzen Verfahren gegen Yukos und Chodorkowskij wollte, hat er ja bereits und würde auch durch ein mildes Urteil gegen Chodorkowskij nicht geändert: die absolute Hegemonie im russischen Ölsektor. Nun mit Chodorkowskij milde abzurechnen, könnte ihm den vermissten Beifall im Westen bringen.

Ingo Mannteufel
DW-WORLD, 27.4.2005, Fokus Ost-Südost