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Mendel: Von Erbsen und Erbgesetzen

Hannah Lesch
10. November 2016

In der Schule kommt man an ihnen nicht vorbei: Sobald es um Vererbung geht, geht es auch um die Mendelschen Regeln. Vor 150 Jahren wurden sie von Gregor Mendel veröffentlicht - doch wo spielen sie heute noch eine Rolle?

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Gekreuzte Pflanzen
Bild: DW/H. Lesch

"Die Mendelschen Regeln? Natürlich weiß ich noch, was das ist - die hatte ich schließlich irgendwann einmal in der Schule. Irgendwann …", sage ich halbwegs sicher zu meiner Redakteurin - als sie mir den Auftrag für diesen Artikel gibt. Die werden jetzt also 150 Jahre alt - aber ist das wirklich ein Grund, sich damit noch mal zu beschäftigen? "Mendel ist immer noch aktuell", gibt meine Redakteurin mir mit auf den Weg. Na gut, dann gehe ich ihn eben suchen, diesen Mendel - und vereinbare ein Interview mit einem Professor der Genetik.

Auf dem Weg zum Interview stelle ich mir Gregor Mendel in der Berliner U-Bahn vor: Der Mönch sitzt mir in seiner Kutte gegenüber, getrocknete Erbsenblüten knistern in seinen Taschen. Mit seiner kleinen runden Brille steht er dem daneben sitzenden Hipster modisch in nichts nach.

Gregor Mendel
Gregor Mendel veröffentlichte 1866 seine Forschungsergebnisse. Bis heute gilt er als der "Vater der Genetik"

Dank einer kurzen Internetrecherche weiß ich, dass Mendel vor 150 Jahren ein hingebungsvoller Forscher war. Über acht Jahre hat er die Vererbungsregeln mithilfe von Erbsen erforscht und erst dann seine Erkenntnisse veröffentlicht. Die waren zwar genial, aber seiner Zeit voraus - damals hat man ihnen keine Bedeutung beigemessen. Gregor Mendel ist gestorben, bevor er so richtig berühmt wurde. Wie das immer so ist.

Von Genies und Seitensprüngen

Genug philosophiert. Ich erreiche das Büro von Reinhard Kunze, Professor an der Freien Universität (FU) Berlin. In seinen Bücherregalen liegen zwischen dicken Nachschlagewerken bunte Maiskolben - und wieder höre ich: "Die Mendelschen Regeln gelten bis heute und werden das auch in Zukunft tun."

Diesmal folgt darauf aber auch die Erklärung. "Weil Mendel als Erster wissenschaftlich korrekt herausgefunden hat, wie unsere Erbeigenschaften von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden", so Kunze.

Wir alle bekommen unsere Erbeigenschaften doppelt - je einen kompletten Satz von unserem Vater und von unserer Mutter. Ihre Erbeigenschaften mischen sind in uns - und wir geben sie entsprechend vermischt auch an unsere Nachkommen weiter. "Und das beschreiben die Mendelschen Erbregeln - zusammen mit vielen Erweiterungen, die wir heute kennen", stellt Kunze klar.

Alle, die sich mit Vererbung beschäftigen - Mediziner, Pflanzenzüchter, Tierzüchter und Landwirte - müssen laut Kunze die Mendelschen Regeln kennen. "Es würde auch nicht schaden, wenn der Normalbürger ein bisschen Ahnung davon hätte - dann würde er auch besser verstehen, warum die eigenen Kinder vielleicht etwas anders aussehen als Papa und Mama - und dass das nicht direkt auf einen Seitensprung hindeuten muss."

Ich stelle mir vor, wie der Mendel von damals mit bei uns am Tisch sitzt und verwundert schaut. Denn er hat damals mit Erbsen geforscht - nicht mit Menschen. Kunze lobt ihn für diese Entscheidung, da sich die Pflanzen mit ihren kurzen Generationszeiten und den vielen Nachkommen gut dafür eignen. Generell ist er begeistert von der Genauigkeit, mit der Mendel damals gearbeitet hat.

Einmal angenommen …

Reinhard Kunze, Biologie-Professor an der FU Berlin
Reinhard Kunze forscht am Institut für Biologie in der Abteilung für molekulare Pflanzengenetik. Er würde sich über Mendel als Mitarbeiter freuenBild: DW/H. Lesch

Mir kommt eine Frage in den Sinn: "Wenn Mendel sich - rein hypothetisch - heute bei Ihnen als Mitarbeiter bewerben würde, würden Sie ihn einstellen?" Während Kunze lächelnd über eine Antwort nachdenkt, rückt mein imaginärer Mendel gespannt seine Brille zurecht. "Tja, wenn er mit dem Wissensstand von damals käme, würde ich ihm zunächst einmal ein Masterstudium empfehlen. Anschließend würde ich ihn bestimmt gerne einstellen." Kunze lacht bei der Vorstellung. Und auch ich stelle mir Mendel im Vorlesungssaal unter den anderen Studenten und bei Klausuren ganz amüsant vor.

Ausnahmen bestätigen die Regeln

Über das Universitätsgelände folge ich Kunze zu einem Nachbargebäude, er bringt mich zu Bachelorstudenten im Praktikum. Mich interessiert, ob Mendels Regeln auch von der nächsten Generation Genetiker noch gelernt werden. Vor dem Eingang des Gebäudes ist ein Stück der DNA-Helix in den Boden gepflastert. Mendel wusste damals noch nichts über unsere DNA und konnte nicht ahnen, dass hier unsere Gene sitzen, erklärt mir Kunze im Vorbeigehen.

Ich stelle mir vor, wie Mendel vor der Tür stehen bleibt und auf den Boden starrt - wie es klick macht und er versteht, was dieses Modell einer Helix darstellt. "Er wusste auch noch nichts von unseren Geschlechtschromosomen. Hier läuft die Vererbung nämlich nicht nach den Mendelschen Regeln", so Kunze weiter. Umso beeindruckender ist es, dass Mendel das Prinzip der Vererbung erkannt hat, ohne die Bestandteile der Gene und biochemische Abläufe wirklich zu kennen.

Die Studenten analysieren heute ihre eigene DNA. Sie wollen herausfinden, ob sie einen bestimmten Bitterstoff schmecken können oder nicht - und das verrät ihnen ihr Erbgut. 

Als ich vorsichtig anfrage, ob Mendel ihnen etwas sagt, kommt im Brustton der Überzeugung: "Ja natürlich, ich glaube, jeder hier kennt die Mendelschen Regeln. Die brauchen wir immer wieder." Alles klar.

Studentin bei einer DNA-Untersuchung
Nicht jeder kann alle Bitterstoffe schmecken. Das ist eine bekannte Mutation in unseren Genen. Ob sie selber zu dieser Gruppe der Bevölkerung zählen, sollen die Studenten im Labor herausfindenBild: DW/H. Lesch

Aber wie stehen die jungen Genetiker nun zum alten Forscher? Ein Student nuschelt etwas wie "Wegen ihm müssen wir den ganzen Kram hier auswendig lernen". In mein Aufnahmegerät möchte er das aber nicht sagen. Offener ist eine Studentin, die gerade ihre DNA-Probe schüttelt. "Wenn er das damals nicht alles herausgefunden hätte, würden wir heute wahrscheinlich nicht hier im Genetik-Labor stehen", stellt sie fest.

Suche nach Genen

"Heute sind wir schon so weit, dass wir das gesamte menschliche Genom von jedem Individuum in kurzer Zeit komplett analysieren könnten", erzählt mir Kunze. Ich stelle mir vor, wie Mendel neben uns vom Stuhl kippt - oder zumindest mit offenem Mund zuhört.

Aber klar - in der Genetik ist man seit Mendels Entdeckung natürlich weitergekommen. Kunze betreibt Grundlagenforschung, um zu erfahren, wie Pflanzen funktionieren. Genauer: Er will herausfinden, wie Stickstoff von Pflanzen aufgenommen und in ihnen transportiert wird. "Das ist wichtig, weil Stickstoff für Pflanzen oft ein begrenzender Faktor ist", sagt er.

Deswegen düngen Hobbygärtner ihre Pflanzen auch mit Stickstoffdünger. Beim Transport in der Pflanze sind verschiedene Proteine beteiligt - jedes davon wird durch ein Gen codiert. "Hier arbeiten wir heute noch so wie Mendel das getan hat. Das heißt, wir müssen zunächst einmal das Gen kaputt machen."

Damals wie heute

Die Erforschung von Genen beruht grob gesagt darauf, dass man sie im ersten Schritt zerstört. An dem, was dann nicht mehr funktioniert, erkennt der Forscher, für welche Funktionen das Gen verantwortlich war.

BG Mendelsche Regeln und Pflanzenzucht | Blüten bestäuben Gewächshaus
Diese winzigen Blüten müssen die Forscher mit der Hand bestäuben. Das erfordert viel Fingerspitzengefühl. "Da darf man vorher keinen Kaffee trinken", meint Kunze.Bild: DW/H. Lesch

Ich denke an Mendel mit seinen rosa und weißen Erbsenblüten. "Wenn das Gen intakt ist, ist die Blüte rosa", erklärt mir Kunze. "Und wenn es kaputt ist, ist sie weiß". Aus diesen Beobachtungen kann man dann ableiten, dass es ein Gen gibt, das für die Farbgebung der Pflanze verantwortlich ist. "Im Prinzip machen wir ja heute noch, was er damals gemacht hat. Wir kreuzen Pflanzen, die sich in bestimmten Merkmalen unterscheiden, und schauen, wie sie sich weitervererben. Wir benutzen auch dasselbe Werkzeug wie Mendel damals: eine einfache Pinzette, um die Pflanzen gezielt zu bestäuben."

Am Ende frage ich Kunze, ob er gerne einmal in der Zeit zurückreisen und mit Mendel tauschen wollen würde. Er wäre sofort dabei. "Das wäre eine spannende Sache! Nicht nur für einen Tag, sondern für mindestens einen Monat." Dabei würde ihn neben der Forschung auch das Umfeld des Mönchs interessieren - darüber ist kaum etwas bekannt.

Eine spannende Vorstellung: Der Professor mit Kutte und Mendels kleiner Brille beim Bestäuben der Erbsenpflanzen im Klostergarten - und Mendel als Dozent an der FU Berlin. Die Mendelschen Regeln sind auf jeden Fall noch aktuell - und er selber wohl auch.