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Vergangenheitsbewältigung per Mattscheibe

Stephan Hille23. November 2004

Zwei aufwändig produzierte Fernsehserien bringen die Stalin-Ära in die russischen Wohnzimmer. Für Russland ist dies eine kleine Kultursensation: Eine öffentliche Beschäftigung mit diesem düsteren Kapitel fehlte bislang.

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Stephan Hille

Mit der Vergangenheit der kommunistischen Diktatur tut sich Russland schwer. Anders als in den ehemaligen Staaten des Ostblocks hat es in Russland kaum Anstrengungen gegeben, die totalitäre Vergangenheit aufzuarbeiten. Als unter Gorbatschows Perestroika Mitte der achtziger Jahre Zügel und Zensur lockerten, stand tatsächlich der Wunsch nach Auseinandersetzung mit dem Gulag und den Verbrechen Stalins für einige Zeit im gesellschaftlichen Mittelpunkt.

Keine Aufarbeitung der Stalin-Ära

Doch der Enthusiasmus für Aufklärung und Aufarbeitung ließ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rasch nach, aus verständlichen Gründen: Die neue Epoche mit Schocktherapie, Preisfreigabe und Privatisierungsgalopp stürzte die breite Masse in bittere Armut. Das wirtschaftliche Elend, der eingebüßte Großmachtstatus sowie der als Schmach empfundene territoriale Verlust der ehemaligen Sowjetrepubliken schuf schnell einen fruchtbaren Nährboden für Nostalgie und Sehnsucht nach der vermeintlich stabilen und guten alten Sowjetzeit.

Der Aufarbeitung der stalinistischen Repressionen nahmen sich einige wenige Bürgerrechtler und Menschenrechtsorganisationen wie zum Beispiel "Memorial" an, doch ihre Arbeit stößt in der Gesellschaft kaum auf Resonanz. Bis auf den heutigen Tag hat es in Russland keinerlei Debatten über den Umgang mit der eigenen Geschichte gegeben. Auch dies ist nicht verwunderlich.

Stalin als Symbol für Sieg im Zweiten Weltkrieg



Schließlich plumpste Russland praktisch ohne größeren Bruch aus der Sowjetunion, das Land wird heute von zwar umbenannten aber den alten und kaum reformierten Stützen der Sowjetunion regiert: Die Präsidialadministration ist heute ebenso mächtig wie das damalige Zentralkomitee, das Parlament ist wie der oberste Sowjet ein machtloses Gremium zum Abnicken von Gesetzen. Der Beamtenapparat wächst, während Einfluss und Macht der Sicherheitsorgane, Geheimdienst, Justiz und Militär praktisch unangetastet blieben.

An der Spitze steht mit Wladimir Putin ein Präsident, der auf eine Laufbahn im sowjetischen KGB zurückblickt. Für die Mehrheit der Russen ist Putins KGB-Karriere kein Makel, sondern ein Gütesiegel. Wenn nötig, greift Putin auch tief in die sowjetische Mottenkiste. Den Russen gab er die alte Hymne mit neuem Text zurück, der Armee den roten Stern als Banner. Erst kürzlich ließ er auf einem Gedenkstein wieder den Namen "Stalingrad" anbringen. Mit Stalin verbindet die Mehrheit der Russen noch immer vor allem den Sieg im Zweiten Weltkrieg.

Millionenpublikum vor dem Fernseher

Doch dies könnte sich ändern: Die gerade erst ausgestrahlte 24-teilige Serie "Moskauer Saga" erzählt die Geschichte einer Familie, die wie so viele in die Räder der stalinistischen Willkür geriet. Direkt im Anschluss folgt nun die Verfilmung von Anatolij Rybakows weltberühmtem Roman und Abrechnung mit dem Stalinismus "Die Kinder des Arbat". Der Roman konnte erst in der Perestroika 1987 nach vielen Jahren endlich die Zensur passieren und erschütterte damals das Land. Das nun ausgestrahlte Drama in 16 Folgen dürfte wiederum ein Millionenpublikum vor den Fernseher fesseln und die Russen zum Nachdenken anregen. Immerhin.