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Verkrustung durch Konsens

Daniel Hirschler

Der schwedische Arbeitsmarkt gilt von je her als äußerst unflexibel. Das liegt, meinen Wissenschaftler, nicht zuletzt auch am Harmoniebedürfnis der Schweden.

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Pendler in Stockholm: Auf dem Weg zu einem gerechteren Arbeitsplatz.Bild: AP

"Rättvisa" ist ein wichtiges Wort für die Schweden, vor allem, wenn es um die Gestaltung ihrer Gesellschaft, aber auch ihres täglichen Lebens geht. "Rättvis", also gerecht, soll es zugehen in dieser Welt, in Schweden, in der Familie und eben auch auf der Arbeit. Kein Wunder also, dass zwischen Riksgränsen im äußersten Norden und Ystad im Süden vieles seinen äußerst geordneten, fast möchte man sagen schwedisch-sozialdemokratischen, Gang geht. Denn Gerechtigkeit braucht Rechte und deswegen ist vieles geregelt in diesem Land, auch und vor allem der Arbeitsmarkt.

Dessen Regulierung schlägt manchmal die seltsamsten Blüten: Da brauchen die Verhandlungsführer der Gewerkschaften mehrere Monate, bis sie ihren Mitgliedern die Folgen eines neuen Tarifvertrages erklären können, weil sie ihn selber nicht gänzlich durchschauen. Doch die Schweden nehmen solche Bürden gelassen bis kreativ auf. Sie reagieren auf die unvermeidlich damit verbundenen Bürokratismen mit niedlich-handlichen Verben: So wird aus der Abkürzung MBL, „Medbestämmningslag“ (Mitbestimmungs-Gesetz) „m-b-l-ar“, also „nach dem Mitbestimmungsgesetz verhandeln“.

Tarifverträge aus dem Bauch heraus

Mitbestimmen, verhandeln und für Gerechtigkeit sorgen am Arbeitsplatz ist den Schweden offensichtlich schon in Fleisch und Blut übergegangen. Jonas Agell, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Stockholm jedenfalls meint, dass sich vieles, was am Arbeitsmarkt passiert „eher als sozio-psychologisches Phänomen erklären lässt“. Agell hat sich in seiner Forschung vor allem auf die Lohnfindung konzentriert. Bei Befragungen von Verhandlungsteilnehmern in mehr als 1000 Firmen stellte sich heraus: Beide Parteien waren sich oft unausgesprochen darüber einig, dass ein „ungerechtes“ Lohngefüge sofort zu Unzufriedenheit und damit sinkender Loyalität und minderer Produktivität führen würde. Also setzten beiden Seiten auf einen frühen Konsens.

Jonas Agell
Jonas Agell, Wirtschaftsprofessor, SchwedenBild: CESifo

Den Verhandlungspartnern der Arbeitgeberseite ist demnach durchaus bewusst, dass das Gefühl für Gerechtigkeit in ihrer Belegschaft stark ausgeprägt ist. Bei Untersuchungen in den USA, so Agell, habe sich ein ähnliches Phänomen in den Tarifverhandlungen gezeigt. Allerdings kümmerten sich die US-Amerikaner mehr um die Verhältnisse im eigenen Unternehmen. In Schweden habe man darüber hinaus auch immer den gesamten Arbeitsmarkt im Auge. „Das liegt sicherlich auch an den starken Gewerkschaften und der damit verbundenen besseren Information über die Tarifverhältnisse. Diese Institutionen verstärken somit das psychologische Momentum“, ergänzt der Ökonom im Gespräch mit DW-WORLD.

Flexibilität beginnt in den Köpfen

Agell erklärt mit diesem psychologischen Ansatz die unflexible Reaktion des Arbeitsmarktes auf die schwere Krise der Neunziger: „Nicht einmal damals gab es Lohnsenkungen, obwohl sich die Arbeitslosigkeit verdoppelte und am Ende so hoch war, wie seit den 1930ern nicht mehr!“

Sind demnach alle Versuche, den schwedischen Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten, von vorneherein zum Scheitern verurteilt? So weit will der Wissenschaftler nicht gehen: „Lohnfindungsprozesse beispielsweise sind sehr komplex. Aber wie wir zeigen konnten, spielen dabei eben mehr Komponenten eine Rolle, als bislang angenommen.“ Umgekehrt bedeute dies aber auch, dass der Arbeitsmarktpolitik in diesem Bereich enge Grenzen gesetzt sind.

Das Ende des Konsens

Die in Schweden üblichen dezentralen Lohnverhandlungen sind somit ein erster Kompromiss auf dem Weg zum flexibleren Arbeitsmarkt: Sie ermöglichen lokale Lösungen, bei denen der Gerechtigkeitssinn durch die psycho-soziale Komponente und das hohe Bewusstsein für die allgemeine Lohnsituation bedient wird. Allerdings prophezeit Agell den Schweden ein baldiges Ende ihres „Idylls am Verhandlungstisch“: Wenn das Land sich der Euro-Zone anschließt, und damit sei zu rechnen, werde es zwangsläufig wieder zu zentraleren Lohnverhandlungen kommen. Der schwedische Drang nach "Rättvisa" dürfte darin eine eher untergeordnete Rolle spielen.