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Terrorismus

Das Leid der vermissten Jesiden

Judit Neurink nsh
19. November 2017

Während die Macht des IS im Irak und Syrien schwindet, bleiben Tausende Jesiden verschwunden. Viele der entführten und verkauften Menschen, glauben Aktivisten, werden versteckt oder verstecken sich aus Scham und Angst.

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Viele Yesidi-Frauen werden weiterhin vermisst
Bild: DW/J. Neurink

Mehr als 6000 Jesiden wurden vom sogenannten Islamischen Staat (IS) im Nordirak und Syrien entführt. Bis heute, drei Jahr danach, gelten mehr als die Hälfte von ihnen weiterhin als vermisst. Doch viele von ihnen, so berichten unter anderem Entwicklungshelfer, würden unerkannt in Flüchtlingslagern für Binnenvertriebene leben - versteckt in arabischen Familien, die dort Zuflucht suchen. Viele der betroffenen Jesiden, sagt der Aktivist Mirza Dinaye, fürchteten nun um ihr Leben, weil sie während ihrer Gefangenschaft unter dem IS dazu gezwungen wurden, zum Islam zu konvertieren. Dinaye setzt sich für eine aktive Suche nach ihnen ein, damit sie wieder in ihre Familien zurückkehren können.

Die Entführten seien Opfer der IS-Strategie, den jesidischen Glauben auszulöschen, sagt Dinaye: "Wir wissen, dass sie völlig in der muslimischen Gemeinschaft assimiliert sind. Sie glauben, dass es den jesidischen Glauben nicht mehr gibt, und leiden oft unter einer Art Stockholm-Syndrom." Das Stockholm-Syndrom ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Entführte eine positive emotionale Beziehung zu ihren Entführern oder ihrer Situation entwickeln.

"Habe mich wie eine Muslima gefühlt"

So erging es auch Mediha Ibrahim. Die 13-Jährige wurde im August 2014 vom "Islamischen Staat" entführt und verbrachte die kommenden drei Jahre in den Familien türkischer IS-Anhänger in Tal Afar im Irak. Während der Gefangenschaft machten sie aus ihr eine Muslima. "Ich habe mein Kurdisch ganz vergessen", sagt Mediha auf Türkisch, während sie in einem Restaurant im kurdischen Teil des Iraks eine Pizza verschlingt. Hier wurde sie in einem Flüchtlingscamp mit ihren Onkeln und zwei ihrer Brüder zusammengeführt, die ihr bei der Flucht geholfen hatten. Ihre Eltern und ein weiterer Bruder werden noch immer vermisst. Der konnte immerhin auf Fotos eines IS-Kämpfers bei Facebook identifiziert werden. Offenbar wird er von der Familie des Islamisten versteckt gehalten - genau wie Mediha selbst bis vor kurzem.

Viele Yesidi-Frauen werden weiterhin vermisst
Die 13-jährige Mediha Ibrahim: "Ich habe mich wie eine Muslima und nicht mehr wie eine Jesidin gefühlt"Bild: DW/J. Neurink

Medihas erster türkischer Entführer in Tal Afar, Abu Yousef, hatte drei Frauen und viele Kinder. "Er hat mich geschlagen und mich an eine andere Familie weiter verkauft", erzählt sie. Bei Abu Ali und seiner Frau Fatima, die aus dem türkischen Bursa kam, lebte sie etwas länger, bevor sie dann an Abu Ahmed und dessen Frau Zahida aus dem türkischen Konya verkauft wurde. Dort bekam Mediha einen neuen Namen: Hadjar hieß sie fortan. Inzwischen hatte sie sich selbst Türkisch beigebracht und lernte in einer Schule Arabisch. Sie betete fünfmal am Tag und las gern den Koran.

Man sagte ihr, dass sie nie wieder in ihre Familie zurückkehren könne und dass es besser wäre, wenn sie ihre Herkunft so schnell wie möglich vergessen würde. "Ich habe mich wie eine Muslima und nicht mehr wie eine Jesidin gefühlt", sagt Mediha. "Sie sagten mir, dass meine Familie mich umbringen würde, wenn sie herausfände, dass ich meinen Glauben aufgegeben hatte." Die Jesiden sind eine sehr eng verbundene Gemeinschaft. Jemanden mit einem anderen Glauben zu heiraten oder einen anderen Glauben anzunehmen, ist nicht erlaubt. Was Mediha nicht wusste, ist, dass das religiöse Oberhaupt der Jesiden, Baba Sheikh, allen vom IS Entführten garantiert, dass sie ohne Konsequenzen in ihre Gemeinschaft zurückkehren könnten.

Verhör durch die irakische Polizei

Mediha flüchtete mit ihrer türkischen Familie, als die Kämpfe in Tal Afar immer heftiger wurden, in Richtung Mossul. Dort wurden sie in einem Gefangenenlager für Familien ausländischer IS-Kämpfer interniert. "Ich hatte Angst und war mir nicht sicher, ob die Wachen auch zum IS gehörten", sagt Mediha. Tatsächlich aber gehörten die Wachen zur irakischen Polizei. Sie verhörten die Inhaftierten, wollten immer wieder wissen, ob unter ihnen auch Jesiden seien. "Sie haben mich auch gefragt, aber ich habe es geleugnet", sagt Mediha in sanftem Ton. Ihre "Pflegemutter" Zahida aber konnte dem Druck nicht standhalten. "Das da ist nicht mein Kind", gab sie vor der Polizei zu. Mediha musste den Beamten den Namen ihres Vaters nennen. Als einer ihrer Onkel sie schließlich abholte, war all ihre Furcht verflogen. "Ich habe ihn sofort wiedererkannt. Nur sein Bart war inzwischen weiß geworden. Ich war so glücklich ihn zu sehen", erinnert sie sich.

Viele Yesidi-Frauen werden weiterhin vermisst
Das jesidische Mädchen Dalia: Sie befürchtete, am Ende als Sex-Sklavin verkauft zu werdenBild: DW/J. Neurink

Mediha weiß, dass in dem Gefangenenlager noch mehr jesidische Mädchen sind, die wie sie, nichts über ihre Herkunft sagen. Hadi Baba Sheikh, der Bruder und Sprecher des religiösen Oberhaupts der Jesiden, hat selbst einige Kinder aufspüren können: unter anderem die sechsjährige Dalia, die er nach einem Hinweis in der ehemaligen IS-Hochburg Sargat fand. "Dalia weiß, dass Zeineb nicht ihr richtiger Name ist und dass sie eine Jesidin war", sagt Hadi. Viele der jüngeren Kinder aber hätten sowohl ihre Namen als auch ihre Religion vergessen. Wie Mediha, hatte auch Dalia große Angst zu gehen, als Baba Sheikh sie fand. Sie befürchtete, nun als Sex-Sklavin verkauft zu werden. Vielen der jesidischen Frauen ist genau das passiert. Einige haben inzwischen bereits Kinder von ihren Entführern und schämen sich zu sehr, um nach Hause zurückzukehren.

Kinder und Frauen gegen Geld

Aktivist Mirza Dinaye kennt das Problem. Deswegen wollte er in Camps mit Flüchtlingen aus vom IS-befreiten Städten eine große Suchaktion starten. Dinaye hatte sogar schon ein Team zusammengestellt, doch die zuständige Stelle, eine Abteilung des kurdischen Religionsministeriums, wollte ihm keine Genehmigung erteilen. Kheiri Bozani, Leiter der Abteilung erklärt, dass es daran liege, dass Jesiden für Informationen über vermisste Kinder und Frauen bislang immer eine finanzielle Gegenleistung gefordert hätten.

Viele Yesidi-Frauen werden weiterhin vermisst
Eines der Camps für Binnenvetriebene nahe der irakischen Stadt Mossul. Wie viele Jesiden leben hier versteckt? Bild: DW/J. Neurink

Viele Jesiden wollen und können nicht darauf warten, bis die Behörden ihre internen Unstimmigkeiten geklärt haben, und so müssen sie bei ihren Suchen improvisieren. Hadi Baba Sheikh beispielsweise nutzt seinen Status als Sprecher des religiösen Jesidenführers, um Zugang zu Flüchtlingscamps zu bekommen. Mithilfe von Hinweisen hat er schon einige Frauen und Kinder aufspüren können. Nun aber gibt es ein neues Problem: Einige Familien, die in die ehemaligen IS-Städte wie Tal Afar und Hawidscha zurückgekehrt sind, haben jesidische Frauen und Kinder mitgenommen.

Den Glauben an eine Rückkehr nie aufgegeben

Mit europäischer Unterstützung und in Zusammenarbeit mit arabischen Stammesführern hat Baba Sheikh damit begonnen, arabischen Familien Geld zu geben, wenn sie sich melden und angeben, dass sie Jesiden bei sich versteckt halten. "Wir gehen zu den Familien und fragen sie: Wer hat ein jesidisches Kind bei sich? Und dann zahlen wir." Einige Jesiden erinneren sich noch an die Namen ihrer Väter oder anderer Familienmitglieder und können ihre Identität so bestätigen. In anderen Fällen muss ein DNA-Test helfen.

Wie wichtig die Arbeit von Hadi Baba Sheikh ist, zeigt sich an Geschichten wie jener von Mediha. Sie beweisen, dass Jesiden noch nicht den Glauben daran verloren haben, eines Tages gerettet zu werden. "Ich habe nicht geglaubt, dass ich den Rest meines Lebens mit ihnen verbringen würde", sagt Mediha über ihre Entführer. "Sie und ihre Häuser waren so schmutzig."