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Verräter oder großer Staatsmann?

7. Juni 2002

- Fast die Hälfte aller Ungarn beurteilt Janos Kadar laut Umfragen durchaus positiv

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Budapest, 7.6.2002, PESTER LLOYD, deutsch

Der Vorsitzende der kommunistisch orientierten Arbeiterpartei, der einst in Moskau ausgebildete Exdiplomat Gyula Thürmer, erntete im vergangenen Jahr wenig Beifall für seinen Vorschlag, János Kádár ein Denkmal zu setzen. Es handle sich schließlich um den "größten Staatsmann Ungarns im 20. Jahrhundert", nie habe dieses Volk so gut gelebt wie in der späten Kádár-Ära des Aufschwungs und der Modernisierung, so Thürmer. Diese Idee wurde freilich von den verschiedensten Seiten abgelehnt. Wenn auch keineswegs von allen. Nach unabhängigen Erhebungen beurteilen fast 50 Prozent der Ungarn den 1989 verstorbenen Parteiführer, der vor wenigen Tagen 90 Jahre geworden wäre, heute durchaus positiv.

Dass man mit Klischees auch aus der jüngsten Geschichte aufräumen sollte, macht eine gründlich recherchierte Monographie des Soziologen Tibor Huszár mit dem minimalistischen Titel "Kádár" deutlich. Der Forscher (Jahrgang 1930) will gar nicht verheimlichen, dass sein "Insider"-Wissen über das Funktionieren des Regimes quasi von "Haus aus" gegeben war. Im zarten Alter schon ein führender Jugendfunktionär, danach am Moskauer Lenin-Institut ausgebildet, diente er treu der Partei - bis zum Oktober 1956, der ihn an der Seite der Reformkräfte fand. Danach wurde aus dem vielversprechenden Kader ein Mittelschullehrer, später folgte eine wissenschaftliche Laufbahn.

All das ist nicht unwichtig, denn es handelt sich schließlich um das erste Werk über diese so widersprüchliche Persönlichkeit. Der gelernte Psychologe und Soziologe Huszár macht uns zunächst mit Kádár als einem von mehrfachen Minderwertigkeitskomplexen beladenen Mann bekannt. Als unehelicher Sohn eines Hotel-Stubenmädchens an der Adria kommt János Csermanek, den Namen der jungen Bäuerin tragend, 1912 in Fiume (heute Rijeka/Kroatien - MD) zur Welt. Der Vater, Soldat, ein noch junger Bauer aus Westungarn, kümmert sich ebenso wenig um den Sohn wie später seine ebenfalls arme Familie. Kádár, schon lange an der Macht, sah den Vater (und seine drei Halbgeschwister) nur ein einziges Mal, im Jahre 1960.

Im Budapest der 20er Jahre hatte János als Sohn einer bettelarmen, alleinstehenden Vizehausmeisterin eine triste Kindheit. Es ist kaum überraschend, dass auch er ohne gesellschaftlichen und familiären Rückhalt einen seelischen Anker, eine Familie in der Arbeiterbewegung fand. Der junge Csermanek war gutaussehend, wenig gebildet, doch intelligent (er war u.a. ein begeisterter und guter Schachspieler) und verlässlich. Er wurde Budapester Sekretär der illegalen KP - einer stark verfolgten Gruppe, die in jenen Zeiten nur einige hundert Mitglieder hatte. Die Führungsspitze - meist aus bürgerlichen, vielfach jüdischen Familien - saß entweder im Kerker oder hatte es geschafft, in die Sowjetunion zu entkommen. Kádár, als "echter" Arbeiter (er war Schreibmaschinenmechaniker), gab quasi einen idealen Kader nach KP-Dogma ab.

Er folgte treu den Weisungen aus Moskau. Jedoch nicht immer ganz: Bei einer Verhaftung in den 30er Jahren nannte er (wahrscheinlich aus Furcht vor weiteren Schlägen) die Namen einiger Genossen - und wurde zunächst aus der Partei ausgeschlossen. Das war eine seiner "Erbsünden" bei der späteren Inquisition. Die andere bestand darin, dass er in den Kriegsjahren die KP, dessen Landessekretär er geworden war, aufgelöst hat und - der Komintern -Taktik folgend - daraus die "Friedenspartei" gründete.

Es gab kaum Kommunisten in Ungarn, die diese Jahre überlebten. Trotzdem wurde der frühere Spitzenfunktionär zunächst nur stellv. Polizeichef von Budapest. Später wurde der "Arbeiterkader" befördert, bis zum Innenminister.

Dort folgte das erste dunkle Kapitel dieses Lebens. Die wissenschaftlichen Recherchen, handfeste Dokumente, bekräftigten den lange bestehenden Verdacht, dass Kádár 1949 eine wichtige Rolle beim Schauprozess gegen einen anderen zu Hause wirkenden Kommunisten, den damaligen Außenminister László Rajk, spielte. Kádár fiel die Aufgabe zu, diesen populären Helden des spanischen Bürgerkrieges zu überreden, die Rolle eines Verräters und Spion des Westens auf sich zu nehmen. Rajk "gestand" und wurde gemeinsam mit anderen zum Tode verurteilt, trotzdem er offenbar das Versprechen erhalten hatte, dass er verschont würde, nachdem er seine Rolle "im Interesse der Partei" gespielt hatte.

Zwei Jahre später wurde Kádár selbst in einem ähnlichen Schauprozess vor "Gericht" gestellt. Als angeblicher Polizeispitzel von 1933 bis 1944 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Die gleiche Tortur noch einmal durchzumachen, die er vorher von der anderen Seite erlebt hatte, gäbe sicher Stoff für ein Psychodrama, das allerdings schwer zu schreiben wäre. Sein wohl schon damals zerstörtes Ego musste jedoch noch viel mehr erleben. 1954 kam er frei und konnte langsam wieder in der Politik Fuß fassen. 1956, als der Aufstand ausbrach, war er bereits wieder Mitglied des Politbüros. Als einer der wenigen nicht kompromittierten Funktionäre gründet er während des Aufstandes eine neue KP anstelle der diskreditierten. Er war sich darüber im klaren, dass es eine kleine Partei sein würde, jedoch eine ehrliche, die mit den anderen in der Demokratie leben wollte. Als Staatsminister in der Regierung Imre Nagy würdigte er im Rundfunk den "ruhmreichen Aufstand" und forderte den Rückzug der Sowjettruppen. Nur einige Tage später sprach derselbe (inzwischen nach Moskau ausgeflogene) Kádár in einer aus der Sowjetunion ausgestrahlten Sendung. Nach dem wiederholten Einmarsch der sowjetischen Armee verkündet er die Bildung einer neuen, moskautreuen Regierung.

Zwei Jahre später werden Imre Nagy und andere zum Tode verurteilt, Hunderte von Aufständischen werden ebenfalls hingerichtet, Tausende eingesperrt, für Zehntausende wird die Teilnahme am Aufstand einen nie wieder gutzumachenden Bruch im Leben bedeuten.

Für all das war Kádár verantwortlich. Nach Huszárs Recherchen wurde der Mann 1956 mit nicht sehr sanftem Druck dazu gebracht, die Quislingrolle zu übernehmen. Entscheidend dürfte für ihn gewesen sein, dass die Altstalinisten die Alternative gewesen wären, falls er den "Auftrag" nicht übernommen hätte. Was nichts daran änderte, dass die beispiellos brutale, massenhafte Vergeltung mit seinem Namen verbunden ist.

Ab Mitte der 60er Jahre, als mit der Amnestie der überwiegende Teil der Verurteilten freikam, begann eine Epoche des wirtschaftlichen und sogar gesellschaftlichen Aufschwungs. Kádár, "ein Techniker der Macht", verstand es, im engen Rahmen eines Satellitenstaates das meiste für die Menschen herauszuholen.

Ungarn, die "lustigste Baracke", wurde ein Land, in dem Hunderttausende in der Folge einer originellen Wirtschaftspolitik das freie Unternehmertum erlernten, in dem sich die Genossenschaftsbauern aus dem Gewinn ihrer Privatproduktion Häuser bauten und die Intelligenz im Ostblock beispiellose Freiheiten genoss. Aus dem verhassten Verräter wurde ein populärer, auch im Westen anerkannter Landesvater.

Laut Huszár wurzeln die markanten Widersprüche im Wirken dieses Mannes in der frustrierten Kindheit und in der orwellschen Atmosphäre der politischen Umgebung, in der er sein Leben verbrachte. Er konnte seine Rolle im Rajk-Prozess und bei der Hinrichtung von Imre Nagy nie überwinden, ebenso wenig wie den Schock von 1956. Letztlich konnte dieser Mann noch manches gutmachen, bevor er am Vorabend der Wende verwirrt starb. Seine widersprüchliche Rolle wird noch manche Bücher hervorbringen, ein Denkmal kaum. (fp)