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"Versöhnungsprozess nicht mit starken Worten stören"

6. Juni 2002

- Rau und Havel um positive Impulse im deutsch-tschechischen Verhältnis bemüht

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Köln, 6.6.2002, RADIO PRAG, PRAGER ZEITUNG, CTK

RADIO PRAG, deutsch, 6.6.2002

Drei Monate nach der viel diskutierten Absage eines Prag-Besuchs von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) haben sich Bundespräsident Johannes Rau und Tschechiens Präsident Vaclav Havel um positive Impulse im deutsch-tschechischen Verhältnis bemüht. Die Staatsoberhäupter betonten am Mittwoch (5.6.) bei einem Arbeitsbesuch von Rau in Prag, dass die bilateralen Beziehungen trotz Kontroversen über die Vertreibung der Sudetendeutschen "ausgezeichnet" seien. Sie warnten davor, den Versöhnungsprozess mit starken Worten zu stören.

Havel rief vor dem Hintergrund der Verteidigung der Vertreibung durch tschechische Politiker auf, "eigenes geschichtliches Benehmen nicht zu einem unantastbaren Heiligtum" zu machen. Gerade vor dem für 2004 geplanten EU-Beitritt sollte es für Tschechien keinen Grund geben, "Wahrheit und Freiheit zu fürchten."

Als Beispiel für gute Zusammenarbeit nannten die Staatsoberhäupter den auf der Grundlage der Aussöhnungserklärung gegründeten Zukunftsfonds. In dem Dokument heiße es außerdem, dass beide Seiten ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten wollten, sagte Rau: "Diesen Konsens dürfen wir nicht aus den Augen verlieren."

Am Abend eröffneten die beiden Präsidenten eine Ausstellung im Nationalmuseum über verbotene Kunst im "Ostblock", zuvor hatten sie mit dem symbolischen ersten Spatenstich feierlich den Baubeginn für eine tschechisch-deutsche Begegnungsschule in Prag freigegeben. In der Einrichtung sollen ab dem Schuljahr 2003/2004 auch tschechische Schüler das deutsche Abitur ablegen können. (ykk)

RADIO PRAG, deutsch, 5.6.2002, Marketa Maurova

(...) Worüber haben die Präsidenten verhandelt?

Es wurden zwar auch die EU-Integration oder die Zukunft der NATO erörtert, aber vor Journalisten war hauptsächlich über die bilateralen Beziehungen die Rede. Die Politiker hoben besonders ihre positiven Seiten hervor, vor allem die regen Handelsbeziehungen und Kulturkontakte, wie zum Beispiel das Theaterfestival deutscher Sprache in Prag. Präsident Havel sagte auch, die bilateralen Beziehungen seien heute ausgezeichnet und besser, als sie je gewesen seien.

(...) Auch die Spannungen der letzten Zeit wurden angesprochen.

Johannes Rau sagte dazu folgendes: "In den Diskussionen der letzten Wochen hat mich bedrückt, dass ich manchmal die Gefahr empfand, wir würden zumindest in der Tonlage zurückfallen hinter schon Erreichtes. Mir ist zuviel über Rechtsfragen gesprochen worden, das muss auch sein, aber mir wird zuwenig über das Leid gesprochen, das viele Menschen erfahren haben, das vielen Menschen zugefügt worden ist. Wir alle wissen, es gibt Fragen der Vergangenheit, zu denen wir unterschiedliche Positionen vertreten, das steht auch in der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997, aber es heißt in dieser Erklärung auch, dass beide Seiten ihre Beziehungen zukunftsgerichtet gestalten wollen und nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden. Ich finde, diesen Konsens dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren."

Präsident Havel sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, nicht zu generalisieren und individuelle Schulden zu beurteilen. Auch er verwies auf einen Satz aus der Tschechisch-Deutschen Erklärung: "Und zwar, dass wir lernen sollen, auch die zeitliche Folge der Taten wahrzunehmen und zwischen Ursachen und Folgen zu unterscheiden." (ykk)

PRAGER ZEITZUNG, deutsch, 5.6.2002

Die Grundsteinlegung des neuen Gebäudes der Deutschen Schule in Prag muss als Bühne für die große Diplomatie herhalten. (...) Denn das deutsch-tschechische Verhältnis hat allen Beteuerungen zum Trotz in den vergangenen Wochen gelitten.

Starke Worte sind hüben wie drüben über die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gefallen. "Diese Äußerungen haben wirklich mit den Wahlen zu tun", erklärte Havel, warum sich auf tschechischer Seite kein Politiker findet, der in die Diskussion um Schuld und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg mäßigende Worte finden würde. Auf der anderen Seite hat dieses Fieber auch auf Deutschland übergegriffen. Beim Pfingsttreffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft hat mit Otto Schily zum ersten Mal ein SPD-Politiker öffentlich die Abschaffung der Benes-Dekrete gefordert. (...)

Am Rande der Präsidententagung im slowenischen Bled trafen sich auch Rau und Havel zu einem klärenden Gespräch. Havel erklärte die feste Absicht, den Besuch des deutschen Präsidenten zu nutzen, um die Gemüter zu beruhigen und die Atmosphäre der gemeinsamen Beziehungen zu entspannen.

Der deutsche Fernsehsender ARD hatte schon am vergangenen Samstag (1.6.) ein kurzes Interview mit Havel in den Hauptnachrichten ausgestrahlt, in dem sich der tschechische Präsident beschwichtigend geäußert hat. "Ich bin niemand und ich war niemand, der die Abschiebung der Sudetendeutschen nach dem Krieg gut geheißen hat", legte Havel seinen Standpunkt dar. "Das war keine gute Sache. Es war aber eine Sache, die zu dieser Zeit gehörte. Es ist ein Bestandteil der bitteren jüngeren Geschichte."

Gleichzeitig äußerte der frühere Dissident jedoch die Hoffnung, dass die Diskussion um die Erlasse des ersten Nachkriegs-Präsidenten der Tschechoslowakei, Edvard Benes, die Beitrittsverhandlungen seines Landes zur Europäischen Union nicht belasten werden.

Johannes Raus eintägiger Staatsbesuch in Prag dient also nicht nur einem förmlichen Akt, ihm könnte staatstragende Bedeutung zukommen. Denn auf einer anderen Ebene als auf dieser höchsten, der Präsidentenebene, vermögen derzeit deutsche und tschechische Spitzenpolitiker nicht vernünftig miteinander zu kommunizieren. In beiden Ländern wird gewählt, und da werden Wörter in der Regel nicht auf die Goldwaage gelegt. Kanzlerkandidat Stoiber bleibt dabei kaum hinter den Tschechen zurück. Nun müssen die Präsidenten korrigierend eingreifen. So macht die Deutsche Schule in Prag noch einmal große Politik. (ykk)

CTK, tschech., 6.6.2002

(...) Das tschechisch-deutsches Verhältnis hat sich auch nach dem Besuch von Bundespräsident Johannes Rau nicht wesentlich verbessert, so die Tageszeitung "Lidove noviny." "Der Steinblock namens 'Benes-Dekrete' liegt nach wie vor an der Grenze und niemand auf beiden Seiten ist vor den Wahlen bereit, ihn zu entfernen." Das Blatt weist jedoch auf eine andere grundsätzliche Veränderung hin: "Vaclav Havel glaubt nicht mehr, die Diskussion über die Benes-Dekrete sei eine Modeerscheinung. Im Gegenteil: Er beginnt damit, sie als ein ernstes tschechisch-deutsches Problem zu betrachten." Rau habe die Diskussion über dieses Thema nie unterschätzt. (...)

"Hospodarske noviny" meint, der Prag-Besuch von Johannes Rau habe sich doch als nützlich erwiesen. "Er hat gezeigt, dass es auch in Wahlkampfzeiten, wenn Äußerungen von Politikern vor allem für die heimischen Zuhörer bestimmt sind, möglich ist, einen Raum für eine Debatte zu schaffen, die nicht von Vorurteilen und Emotionen belastet ist." Die konfliktlose Tonlage im Gespräch von Havel mit Rau unterstütze die Aussichten darauf, dass es nach den Wahlen in beiden Ländern wieder möglich sein werde, sich an einem Tisch zu setzen, so "Hospodarske noviny." (...) (ykk)