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Verschwundene Bilder

4. Oktober 2010

Für Gerhard Richter beginnt seine Kunst offiziell erst 1962 - damit negiert er all diejenigen Gemälde, die er in der DDR gemalt hat. Doch nicht nur der Maler selbst hat kein Interesse an dessen frühen Gemälden…

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Keiner der Besucher im Deutschen Hygienemuseum achtet auf die Wand im Eingangsbereich - warum auch? Sie ist weiß, steril, glatt gespachtelt. Diese weiße Wand birgt aber ein Geheimnis, und das hat mit Gerhard Richter zu tun.

Richter studierte in den 50er Jahren Wandmalerei an der Dresdener Kunsthochschule. Seine Diplomarbeit malte er auf diese heute so weiße Wand, sagt Susanne Roeßiger, Leiterin der Museumssammlung. "Das Bild heißt Lebensfreude. Darauf waren verschiedene Menschengruppen zu sehen, eigentlich in so einer Freizeitsituation. Wahrscheinlich ist es 60 Quadratmeter groß. Es hat die ganze Wand eingenommen."

Margret Hoppe: Gerhard Richter, Lebensfreude, 1956, Wandbild, 500 x 1500 cm, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, 2006, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden (Foto: Margret Hoppe)
Gerhard Richter, Lebensfreude, 1956, Wandbild, 500 x 1500 cm, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, 2006, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden

Wandübermalung - zum Ersten

Das Gemälde hat die Wand nicht nur eingenommen - es nimmt sie immer noch ein. Nur ist es mit weißer Farbe übermalt. Es ist das bisher größte Gemälde des Künstlers. Für diese Diplomarbeit bekam er die Note "Sehr gut". Gerhard Richter lernte in Dresden Klassische Malerei, doch die Gegenwartskunst im Westen reizte ihn, zog ihn an.

Zwei Jahre vor dem Bau der Mauer reiste Richter zur Documenta nach Kassel, der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst. Die Documenta überrumpelte ihn, wie er später in einem Interview sagte. In Kassel habe er gemerkt, dass irgendetwas mit seiner Denkweise nicht stimme. Die Documenta sei der eigentliche Grund gewesen, 1961 aus der DDR zu fliehen. Das Hygienemuseum beschloss 1979 deshalb: "Vom Generaldirektor wurde entschieden, das Wandbild von G. Richter zu überstreichen, um den Originalzustand wieder zu erreichen. Außerdem hat G. Richter nach Abschluss seiner Ausbildung 1959/60 Republikflucht begangen."

Originalzustand heißt: Das in der DDR unter Denkmalschutz stehende Museumsgebäude soll wieder in den Zustand gebracht werden, so wie es der Architekt geplant hatte. Mit weißer Wand also, nicht der Wandmalerei von Richter. Ein Argument, das viele Jahre später wiederkehren sollte.

"Kein erhaltenswertes Kunstwerk"

Portraitfoto von Gerhard Richter bei seiner Ausstellung 'Acht Grau' im Guggenheim Museum in Berlin 2002 (Foto: AP)
Richter will sein Bild nicht wiedersehenBild: AP

Das Deutsche Hygienemuseum ist in einem beeindruckenden Monumentalgebäude der Bauhaus-Ära untergebracht. 1912 als "Volksbildungsstätte für Gesundheitspflege" gegründet, zeigt das Museum seit der Wende aber ein umfassenderes Menschenbild. 1994 stand die Sonderausstellung "Körperbilder, Menschenbilder" an. Die Museumsleitung erinnerte sich an das Richtergemälde, das sie von alten Fotografien her kannte und legte für die geplante Ausstellung zwei Stellen von Richters Wandbild frei: oben rechts eine Mutter mit Kind, unten rechts die Signatur des Malers.

Dieser schrieb dem Museum daraufhin: "Was das Wandbild betrifft, muss ich sagen, dass es mich zwar ehrt, dass es Bemühungen gibt, es wieder freizulegen, aber andererseits bin ich mir sicher, dass das Wandbild nicht zu den erhaltenswerten Kunstwerken auf der Welt gehört. Deshalb kann ich auch nicht den möglichen Aufwand zu seiner Wiederinstandsetzung billigen und muss Ihnen also sagen, dass ich nicht damit einverstanden wäre."

Wandübermalung - zum Zweiten

Die beiden freigelegten Flächen seines Wandbildes von 1956 blieben dennoch erst einmal zu sehen, jedenfalls bis zur Sanierung des Gebäudes im Jahr 2000. "Damals gab es Gespräche mit entsprechenden Fachleuten und man kam wohl überlegt zu der Lösung, das Wandgemälde mit einer Schutzschicht abzudecken und darüber dann weißen Anstrich anzubringen", erinnert sich Sammlungsleiterin Roeßiger. "Es wurde also entschieden, das Wandgemälde zu schützen, damit es jederzeit wieder hervorgeholt werden kann, aber jetzt erst einmal nicht zu sehen ist."

Das Wandbild wurde also erneut übermalt. Man wolle den Originalzustand des Gebäudes, so wie es sich der Architekt vorgestellt hatte, wieder herstellen, sagt Roeßiger. Dazu gehört eben kein Wandgemälde im Treppenhaus.

Das Werk 'Zehn große Farbtafeln' von Gerhard Richter, im Bildvordergrund ist eine Ausstellungsbesucherin zu sehen. Das Werk zeigte die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf 2005. (Foto: dpa)
"Zehn große Farbtafeln" von Gerhard Richter, hier in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf 2005Bild: picture-alliance/dpa/dpaweb

"Dafür muss man sich doch nicht schämen"

15 Minuten Fußweg vom Hygiene-Museum entfernt werden Besuchergruppen durch die "Galerie Neue Meister" im Albertinum geschleust. Zwei große Räume sind hier Gerhard Richter gewidmet. Frühwerke des Künstlers hängen hier nicht. Gerhard Richter hat vor einigen Jahren einen offiziellen Katalog seines Gesamtwerkes publiziert. Sein erstes Gemälde stammt seiner Auffassung nach von 1962.

Damit negiert er alle Werke, die er vor seiner Flucht in den Westen in der DDR gemalt oder gezeichnet hat. "Das sind Distanzierungsversuche, die ich ehrlich gesagt nicht verstehe. Gerhard Richter hat doch in Dresden studiert, deswegen muss man sich doch nicht schämen", sagt Herbert Schirmer. Er war 1990 der letzte Kulturminister der DDR und verfolgt seitdem die Diskussion über Kunst aus der DDR. "Das muss man doch jedem Künstler zubilligen können, dass er innerhalb seiner künstlerischen Biografie eine Entwicklung durchläuft, aber dann an jeder neuen Station zu sagen, was vorher war, gilt jetzt nicht mehr, das finde ich irritierend."

Sicherlich ist es nicht nur eine Besonderheit von Künstlern aus der DDR, eine bestimmte Schaffensperiode zu negieren. Beurteilen sollte die Werke aber eher die Kunstwissenschaft. Doch die steht in diesem Fall vor einer weiß getünchten Wand - und das zum zweiten Mal.

Autorin: Nadine Wojcik

Redaktion: Klaus Gehrke