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Verunsicherung und Ratlosigkeit

Alexander Kudascheff5. November 2002

Die Europäische Kommission hat mit Zurückhaltung auf den Sieg der islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) bei den türkischen Parlamentswahlen reagiert. Alexander Kudascheff kommentiert.

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Der Sieg gemäßigter - vielleicht auch nur vorgeblich gemäßigter - Islamisten in der Türkei war ein Schock. Und das, obwohl der Sieg der AKP erwartet wurde. Natürlich wird niemand in Brüssel das öffentlich und laut zugeben. Aber allein die erste Reaktion zeigt, wie verunsichert die EU ist: Kühl und zurückhaltend, ohne die üblichen Glückwunsch-Floskeln, hat Brüssel das Ergebnis zur Kenntnis genommen. Und, so hat man versichert, man werde mit der neuen Regierung zusammenarbeiten und ansonsten darauf achten, dass der Reformweg der Türkei pro-europäisch bleibe. Das allerdings ist eine Selbstverständlichkeit und zeigt die tiefe Verunsicherung und wohl auch Ratlosigkeit in den Korridoren der europäischen Diplomatie.

Kernfrage

Die Kernfrage, um die sich alles dreht, heißt: Haben sich nach dem Wahlsieg der gemäßigten Islamisten die Chancen der Türkei, mit der EU Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, verbessert oder verschlechtert? Und man kann nur feststellen: das weiß niemand. Und deswegen antwortet Brüssel gelassen: Man werde die neue Regierung an ihren Taten messen und nicht nach ihren Slogans oder Wahlkampf-Parolen beurteilen. Etwas anderes bleibt der EU allerdings auch nicht übrig. Man muss abwarten und darauf hoffen, dass die neue Regierung sich als so pro-europäisch erweist, wie sie vollmundig verkündet.

Ansonsten ist die Lage, wie sie war: Die EU hält die Türkei für noch nicht verhandlungsreif. Sie erkennt zwar die enormen Reformen der letzten Monate an - wie zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe oder die Chance, endlich auch die krudische Sprache zu lernen; aber die Türkei ist immer noch ein Kandidat in Warte-Position.

Rutschbahn

Die EU zögert und zögert, weil sie ahnt, dass der Beginn von Beitrittsverhandlungen eine diplomatische Rutschbahn in die Mitgliedschaft der Türkei bedeutet, von der nicht alle überzeugt sind. Zwar hat man 1999 in Helsinki der Türkei versprochen, sie könne Mitglied der EU werden, wenn sie ein demokratischer Rechtsstaat werde; aber an die politische Wandlungsfähigkeit der Türkei hat man wohl insgeheim nicht so recht geglaubt.

Die Folge: seitdem sitzt die EU in der Zwickmühle. Sie muss dem Land am Bosporus Hoffnungen machen und setzt darauf, dass die Türkei wiederum die Hoffnungen enttäuscht. Mit einem Wort: viele in der EU hoffen, die Islamisten wenden sich von Europa ab - das würde das Problem lösen.

Prinzip Hoffnung

So aber bleibt den Diplomaten erst einmal nur das Prinzip Hoffnung. Man sei nicht besorgt, hieß es in Brüssel. Die Wahl sei ein Zeichen der Hoffnung und nicht der Befürchtungen. Und ansonsten hielt man sich offziell bedeckt.

Aber natürlich wird man das Wahlergebnis vor dem nächsten Gipfel in Kopenhagen - auf dem vielleicht der Türkei ein Termin für die Aufnahme von Verhandlungen genannt werden sollte oder wird - genau analysieren. Und man ahnt: der Sieg der gemäßigten Islamisten ist weniger ein Sieg des Islams, sondern zu allererst ein Abschied von einer zutiefst unfähigen politischen Klasse. Es war ein Triumph der neuen Gesichter, es war der übermächtige Wunsch nach einem radikalen Bruch mit den alten Kräften. Und das ist auch eine Chance für die Türkei, aber auch für die EU.

Die Türkei steht am Scheideweg. Sie muss selbst entscheiden, wohin ihr Weg führt: nach Europa oder weg vom alten Kontinent. Und die EU? Sie wartet ab. Sie hält die Option eines Beitritts für die Türkei offen. Aber es hängt von der neuen Regierung in Ankara ab, ob die Annäherung an die EU weitergeht - oder nicht. Europa ist auf den Kurs der Türkei gespannt.