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Viel Lärm um alles

Stephan Hille27. Juli 2004

Ruhe scheint den Russen fremd. Moskau ist laut. Lauter Lärmquellen überall. Das ist nicht angenehm, aber verständlich, denn schließlich boomt die russische Hauptstadt wie keine andere Metropole.

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Dies zeigt sich vor allem an den vielen Baustellen. An der Peripherie schießen Luxusbauten in die Höhe, und im Zentrum werden Altbauten mit Getöse abgerissen, um Platz für Neues zu schaffen. Allenthalben dröhnen Presslufthammer, Straßen werden aufgerissen und neu geteert, häufig in der Nacht, damit tagsüber der Verkehr fließen kann. Lärmende Auspuffe und alte Ladas sorgen ebenfalls für überdurchschnittlich hohe Dezibel.

Hinzu kommt, dass jeder Russe sein Vehikel mit einer Signalisazija, einem Autoalarm, ausrüstet. Das führt zu einem beständigen Konzert der unterschiedlichsten Töne. Von monotonen Hupen, bis zu individuellen Kreischorgien. Fast ständig schmettert irgendwo in Hörweite ein Autoalarm. Besonders beliebt sind inzwischen die Alarmanlagen, die bereits ein schrilles Bellen und Knurren von sich geben, wenn man nur an einem parkenden Auto vorbeigeht. Ein kurzes "Üp-Üp-Üp-Üp-Üp-Üp" schlägt an, dass dem Fußgänger signalisieren soll: "Fass mich nicht an." Der Effekt ist jedoch gleich Null. Niemand kümmert sich um das Heulen der Autos. Russische Auto-Knacker sind darüber hinaus wahre Spezialisten, wenn es darum geht, akustische Alarmsysteme zum Schweigen zu bringen.

Immun gegenüber akustischer Umweltverschmutzung

So verständlich der Großstadtlärm und seine Quellen sind, so bleibt zumindest dem Westeuropäer unverständlich, warum die Russen sämtliche potenziellen Oasen der Stille mit wenig Mühe zerstören. Es scheint als sei das russische Gehör gegenüber akustischer Umweltverschmutzung einfach immun.

Bis vor kurzem gab es in Moskau das perfekte Strandbad, nicht weit des Flusshafens. Ein für russische Verhältnisse ungewöhnlich sauberer und feiner Sandstrand nicht allzu weit vom Zentrum entfernt mit annehmbarer Wasserqualität - so war es vor noch vor einem Jahr. Inzwischen wurde aus der Strandbad-Oase eine akustische Müllkippe. Zwar blieb der saubere Strand, doch hinzu kamen Disco, Café und Restaurant. Nun hört der Strandbesucher gleichzeitig Techno, Russenpop und Karaoke.

Die größte Stärke ist die Lautstärke

Gewürzt wird die Melange vom stetigen Blubbern und Tuckern der schweren Motorräder im Rücken der Strandgäste. Russische Biker lieben den Moskauer Strand, aber sie lieben es offenbar gar nicht, ihren schweren Motorrädern eine Pause zu gönnen. Zu Wasser sind gleich ein gutes Dutzend Jet-Ski - so genannte Wasser-Motorräder - unterwegs, deren Fahrer in einem Höllentempo einen Parcours aus Bojen meistern. Diese Wasserflitzer gurgeln und heulen in den höchsten Tönen. Es klingt, als säße man am Nürburgring oder inmitten eines Hornissenschwarmes. Interessant ist nur, dass Olga und Ivan Normalverbraucher der Lautstärkepegel überhaupt nichts ausmacht.

Beinahe jedes Café und jedes Restaurant verbreiten in Russland die Aura eines Open-Air-Konzertes. Früher waren es die Alleinunterhalter, die in sowjetischen Restaurants das Publikum auf dem Keyboard oder der Hammond-Orgel unterhielten oder - je nach Geschmack - terrorisierten. Heute leisten sich die meisten Restaurants ganze Ensembles, deren hauptsächliche Stärke die Lautstärke ist. Den Russen gefällt das, je lauter, desto besser fühlt man sich offenbar hierzulande unterhalten. Für den Hang zur Lautstärke gibt es neben der unterschiedlichen Geschmackskultur zwischen West und Ost wohl nur eine Erklärung: Russen sind eben viel lärmfähiger.