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"Viele Menschen sind in russischen Gefängnissen fast vergessen worden"

1. März 2007

Haftbedingungen und Willkür im russischen Strafvollzug: So der Titel einer kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis'90/Die Grünen an die Bundesregierung. DW-RADIO sprach mit Marieluise Beck, der Initiatorin der Anfrage.

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Marieluise BeckBild: Presse

DW-RADIO/Russisch: Was hat Sie dazu bewegt, diese kleine Anfrage zu initiieren?

Marieluise Beck: Der Blick von grünen Außenpolitikern auf andere Länder ist sehr stark von der Frage nach den Menschenrechten geprägt. Wir haben in der Regel gute Verbindungen zu den zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Menschenrechtsorganisationen, und von daher haben wir ein Bild davon, dass es mit den Haftbedingungen in Russland nicht zum Guten steht.

Erwarten Sie wirklich, dass die deutsche Bundesregierung etwas gegen die Probleme in Russland unternimmt?

Ich gehe davon aus, dass es in den Bereichen, in denen die deutsche Regierung sich innerhalb europäischer oder internationaler Institutionen bewegt, sehr wohl auch um eine Konfrontation mit Russland geht, bei der man immer sagen kann: Auch Russland hat die Grundsätze übernommen, die zum Beispiel den Europarat prägen, und ist damit eine Selbstverpflichtung eingegangen.

Stichwort Tschetschenien: Gibt es Überlegungen, gegen Russland gewisse Sanktionen zu verhängen, falls sich die Situation im Nordkaukasus nicht ändern sollte?

An dem Punkt sehe ich die Politik derzeit überhaupt nicht. Im Gegenteil. Der Blick von Tschetschenien ist leider weitgehend abgewendet worden. Es scheint nach außen eine Besserung zu geben. Russland argumentiert auch damit, dass die Verhältnisse sich beruhigt hätten. Wir Menschenrechtler wissen, dass unter der Decke in Tschetschenien nach wie vor unendlich viel Gewalt herrscht, dass die Sicherheitskräfte und auch die Kadyrow-Leute sich jenseits von Recht und Gesetz bewegen, dass es viel Unterdrückung gibt, viel Einschüchterung, Erpressung, Schutzgelder. Aber es ist leider derzeit wenig sichtbar und deswegen ist die Etappe Nummer ein, dieses fast vergessene Tschetschenien wieder in den Mittelpunkt des Interesses und der Debatte zu rücken.

Sie sprechen in der Anfrage auch die sogenannten inoffiziellen Gefängnisse im Nordkaukasus an. Gibt es Hinweise, dass es sie jetzt wirklich noch gibt?

Davon gehen wir aus. Uns muss vor allen Dingen skeptisch stimmen, dass der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Herr Novak, nicht den Nordkaukasus besuchen durfte, dass die russische Regierung seinen Besuch verwehrt hat. Wer das macht, hat etwas zu verbergen.

In der Anfrage wurden namentlich Sutjagin, Danilow, Trepaschkin, Bachmina, aber auch Chodorkowskij und Lebedjew erwähnt. Sind es wirklich sie, die in russischen Gefängnissen am meisten leiden?

Es gibt keine Hierarchie des Leidens von eins bis zehn. Es sind aber Namen, die beispielhaft dafür stehen, dass Verfahren nicht rechtstaatlich gelaufen sind. Deswegen haben wir sie genannt. Wir wissen, dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, die fast vergessen werden, in Lagern und Gefängnissen. Deswegen haben wir die Anfrage insgesamt auf Haftbedingungen und Willkür im russischen Strafvollzug ausgerichtet und nicht auf diese einzelnen Personen.

Der Vorsitzende des Außenausschusses im US-Repräsentantenhaus Tom Lantos hat heute gesagt, er halte Chodorkowskij für einen politischen Häftling. Gibt es Ihrer Meinung nach politische Gefangene in Russland?

Wenn man sich die Fälle Sutjagin und Danilow anschaut und davon ausgeht, dass ihnen vorgeworfen wird, Material zu veröffentlicht zu haben, das angeblich geheim war - aber belegbar ist, dass das alles Material und Daten waren, die der Öffentlichkeit zugänglich waren - dann muss man davon ausgehen, dass es ein politisches Motiv gegeben hat, um diese Männer einzuschüchtern und um gleichzeitig auch anderen präventiv zu signalisieren: wenn ihr euch bewegt, dann kann euch das Strafrechtssystem erwischen. Im Grunde genommen ist das Ziel eine politische Einschüchterung.

Und was ist mit Chodorkowskij?

Ich habe enge Verbindungen zu Jurij Schmidt, der ein äußerst gewissenhafter Anwalt ist, der sich nicht hinreißen lässt zu emotionalen Aussagen. Er sagt, dass das Verfahren auch politisch motiviert gewesen ist. Vor allen Dingen solche Entscheidungen, die belegbar und nachvollziehbar sind, dass entgegen dem russischen Strafgesetzbuch Herr Chodorkowskij nicht heimatnah untergebracht worden ist. Ein Verstoß gegen das eigene Strafgesetz und gegen die eigenen rechtstaatlichen Grundbedingungen bei so einer Person bekommt dann eine politische Qualität.

Putins Kritiker sagen, die Zustände in Russland gleichen denen in der Sowjetunion. Was meinen Sie, ist ein solcher Vergleich korrekt?

Wir haben diesen Vergleich nicht gezogen. Vergleiche helfen auch nicht unbedingt weiter. Wir haben hingewiesen, was in der Sache für Fehlleistungen zu bemängeln sind. Da steht ganz oben an: die mangelnde medizinische Versorgung, die Zunahme von AIDS in den Gefängnissen, das Wissen um Gewalt in den Gefängnissen, sowohl untereinander aber auch durch Sicherheitsorgane.

Das Gespräch führte Viacheslav Yurin
DW-RADIO/Russisch, 24.2.2007, Fokus Ost-Südost