1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Vom Gassenhauer zum Gotteslob

Marita Berg4. Juli 2013

Bis zum 18. Jahrhundert waren die Grenzen zwischen kirchlicher und nicht-kirchlicher Musik fließend. Sakrale Melodien wurden gerne bei der Komposition weltlicher Lieder wiederverwendet - und umgekehrt.

https://p.dw.com/p/18rop
Das Bronze-Denkmal von Johann-Sebastian Bach auf dem Leipziger Thomaskirchhof. Foto: Waltraud Grubitzsch
Bild: picture-alliance/dpa

Wenn Johann Sebastian Bach eine Komposition vollendet hatte, pflegte er sein Manuskript schlicht mit drei Buchstaben zu unterzeichnen: S.D.G. - die Kurzform für “Soli Deo Gloria“ ("Gott allein sei Ehre"). Dabei war es ihm, dem gläubigen Christen, ziemlich egal, ob er gerade eine Kantate seines Weihnachtsoratoriums oder eine Festtagskantate für irgendeine Fürstin fertig gestellt hatte. Für ihn war Musik ein Geschenk Gottes. Und seine Musik - egal für welche Zwecke komponiert - wurzelte in seinem Glauben an Gott: “Mit aller Musik soll Gott geehrt und die Menschen erfreut werden“, lautete seine Devise.

Schwierige Trennlinie

Tatsächlich waren die Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Musik seit jeher flexibel und durchlässig: Geistliche Musik orientierte sich an der allgemeinen Musikentwicklung und übernahm immer wieder weltliche Ausdrucksformen - und umgekehrt. Die strikte Einteilung in profane und sakrale Musik, wie wir sie heute gewohnt sind, ist eine Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts.

Schriftzug "Soli Deo Gloria" ("Gott allein zur Ehre") unter Bachs Weihnachtsoratorium
Widmung "Soli Deo Gloria" unter Bachs WeihnachtsoratoriumBild: picture-alliance/akg-images

Beate Angelika Kraus, Dozentin für Kirchenmusikgeschichte an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz, findet es daher auch problematisch, eine Trennlinie zwischen geistlicher und weltlicher Musik ziehen zu wollen: “Musik ist immer Ausdruck eines menschlichen Grundbedürfnisses nach künstlerischer Äußerung“, erläutert sie. “Und die beinhaltet natürlich immer persönliche Stellungnahmen und auch religiöse Botschaften.“

Inspiration aus dem Minnesang

Schon im Mittelalter und in der Renaissance erklangen - entsprechend textiert - die gleichen Melodien sowohl auf der Straße als auch in der Kirche. Mittelalterliche Spielleute sangen kaum anders als die Chorherren in der Kirche: So wurde etwa aus dem Minnesang eines reisenden Musicus, der seiner Liebsten ein Ständchen brachte, mit Hilfe eines neuen Textes schnell ein Lied über die Liebe zu Jesus.

“Das war gängige Praxis“, erzählt Beate Angelika Kraus: “Hatte ein weltliches Lied den passenden Ausdruck für eine bestimmte religiöse Stimmung - Liebe, Freude, Zuversicht -, dann war es selbstverständlich möglich, diese Musik mit einem neuem geistlichen Text zu unterlegen.“

Walther von der Vogelweide, Foto-Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Codex_Manesse_Walther_von_der_Vogelweide.jpg
Für Kirchenmusik kopiert: Melodien von Minnesängern wie Walther von der VogelweideBild: public domain

Vom Soldatenlied zur liturgischen Komposition

So basieren viele Mess- und Psalmvertonungen jener Zeit nicht mehr nur auf den alten gregorianischen Choralmelodien. Für die sogenannten Parodie-Messen des 14. bis 16. Jahrhunderts wurden immer öfter populäre weltliche Lieder zur Melodiegrundlage. Sogar Sauf- und Kriegslieder fanden - mit liturgischen Texten versehen - Eingang in die Kirchen und Klöster.

Berühmtestes Beispiel: die kriegerische Chanson “L'homme armé“ ("Der Mann in Waffen"), ein französisches Soldatenlied, das vermutlich im 15. Jahrhundert entstanden ist. Das Lied war so außerordentlich beliebt, dass viele berühmte Komponisten in ganz Europa “L'homme armé“-Messen schrieben, darunter Guillaume de Dufay, Josquin Desprez, Ludwig Senfl und Giovanni Pierluigi da Palestrina. Mehr als 40 Versionen sind uns heute noch bekannt. Die kunstvolle Verarbeitung der Melodie galt damals als eine Art Feuerprobe für das Können eines Komponisten.

Widerstand gegen "lüsterne" Melodien und Texte

Dem Papst waren solche Praktiken ein Greuel. Im Rahmen des Tridentiner Konzils (1545-1563) berieten die Kardinäle daher auch über die Reform der Kirchenmusik. Im Kreuzfeuer der Kritik stand zum einen die Polyphonie, die Vielstimmigkeit der Messkompositionen, durch die man die Textverständlichkeit gefährdet sah. Das Gremium kritisierte aber vor allem den weltlichen Einfluss auf die sakrale Musik. Parodie-Messen, die auf derben Landsknecht-Liedern wie dem “L'homme armé“ basierten, hatten in der Kirche nichts zu suchen! Statt dessen forderten die Kirchenoberen, “dass alle Musik, welche in Melodie oder Text etwas Lüsternes oder Unreines enthalte, aus der Kirche zu verweisen sei.“

Porträt Giovanni Pierluigi da Palestrina
Gilt als "Retter der Kirchenmusik": Giovanni Pierluigi da PalestrinaBild: picture alliance / Keystone

Der Legende nach soll der Mailänder Bischof Carlo Borromeo daraufhin Palestrina beauftragt haben, eine Messe zu schreiben, die allen Forderungen des Konzils gerecht wurde. Palestrina legte einige Messen zur Begutachtung vor - und fand vollste Zustimmung. Die Kardinäle lobten vor allem die Textverständlichkeit seiner “Missa Papae Marcelli“ ("Messe für Papst Marcello"): So hatte eine Messvertonung zu klingen! Fortan galt Palestrina als “Retter der Kirchenmusik“. Den gestrengen Ohren der Hüter der Kirchenmusik war dabei allerdings eine “Kleinigkeit“ entgangen: Obwohl das Konzil das Verbot der Parodie-Messe erlassen hatte, fußt Palestrinas “Muster-Messe“ ausgerechnet auf der umstrittenen Melodie “L'homme armé“.

Alles nur geklaut

Das Parodieverfahren der Renaissance, das "Recycling“ kompositorischen Materials als Grundlage neuer Werke, hatte auch im Barock Hochkonjunktur, allerdings mit anderen Vorzeichen: Hatten die Komponisten zu Zeiten Palestrinas vorwiegend bei Werken anderer Tonschöpfer “geklaut“, so griffen Barockkomponisten nun gerne auf ältere eigene Werke zurück.

Porträt Johann Sebastian Bach aus dem frühen 18. Jahrhundert
Auch Johann Sebastian Bach "recycelte" weltliche Melodien für geistliche KompositionenBild: ullstein bild - Archiv Gerstenberg

“Man muss sich vorstellen, wie viel damals komponiert wurde. Denn um den Anforderungen von Fürsten oder Kirche gerecht zu werden, musste man unglaublich produktiv sein,“ erklärt Beate Angelika Kraus. “Und warum sollte man da ein Werk, das ausgesprochen erfolgreich war, nicht zweitverwerten? Das war üblich und akzeptiert.“

Arbeitsökonomische Notwendigkeit

Das galt auch für Komponisten wie Johann Sebastian Bach oder Georg Friedrich Händel: Für sie war die Zweitverwertung eigener Werke arbeitsökonomische und finanzielle Notwendigkeit: Sie mussten ganz einfach eigene Werke “recyclen“, um den großen Bedarf an abendfüllenden Oratorien (im Falle Händels) oder an Kirchenkantaten (im Falle Bach) überhaupt decken zu können.

Mit einem neuem Text wurde so aus Bachs “Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten“ aus der Geburtstagskantate für die sächsische Kurfürstin kurzerhand der Eingangschor “Jauchzet, Frohlocket“ des Weihnachtsoratoriums. “Entscheidend für solche Modifizierungen war allein der Affekt, die Gemütsbewegung, die erreicht werden sollte,“ betont Beate Angelika Kraus. “Beide Werke waren als feierliches 'Geburtstagsständchen' gedacht, hatten also den gleichen Affekt.“

Faksimile von Bachs Weihnachtsoratorium
Bachs "Pauken und Trompeten" für die Kurfürstin finden sich im Weihnachtsoratorium wiederBild: picture alliance / akg-images

Sinnbild für majestätischen Glanz

Im 19. Jahrhundert hatten Generationen von Bach-Forschern mit Bachs “Kleptomanie“ allerdings ein Riesenproblem: Das “Recycling“ weltlicher Werke für geistliche Zwecke passte nicht so recht in ihr romantisch verklärtes Bild von Bach als “Deutschlands größtem Kirchenkomponisten“.

Der Pragmatiker Bach sah darin allerdings nie ein künstlerisch-moralisches Problem. Er hat bei sich selbst geklaut, weil ein Werk gut war und es auch zu einem kirchlichen Anlass passte: Pauken und Trompeten waren Sinnbild für majestätischen Glanz, sowohl für irdischen als auch für göttlichen. Und für beides galt: “Soli Deo Gloria“.