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Vom Jubiläumswahn des Buchmarktes

Sigrid Löffler29. April 2005

2005 ist ausgesprochen reich an Jubiläen - und zu jedem liefert der Buchmarkt die passende Lektüre. Ob die Verlage sich und uns, den Lesern, damit wirklich einen Gefallen tun, ist eher fraglich, meint Sigrid Löffler.

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Viele bunte Schiller-Bücher -<br>nicht nur im Weimarer ArchivBild: dpa

Im kommenden Mai nähern sich zwei Stichtage, von denen man jetzt schon sagen kann: Der aktuelle Zustand des deutschen Buchmarkts wird sich daran ablesen lassen. Am 8. Mai 2005 ist der Zweite Weltkrieg seit 60 Jahren zu Ende; und am 9. Mai ist Friedrich Schiller seit 200 Jahren tot.

Schiller-Jahr
Alles beherrschend: Friedrich SchillerBild: dpa

Der deutsche Buchmarkt arbeitet seit langem auf diese beiden Stichtage zu. Beide Jubiläen dominieren die Buchproduktion nicht erst in diesem Frühjahr. Für die Verlage hatte das Schiller-Jahr bereits im Sommer 2004 begonnen. Dutzende Neuerscheinungen zum Thema okkupierten die Buchläden, ehe das Schiller-Jahr auch nur begonnen hatte. Und derzeit vergeht kein Tag ohne weitere Titel, die auf eine Schiller-Konjunktur spekulieren, von der höchst zweifelhaft ist, ob es sie überhaupt gibt.

Das Diktat der runden Zahl

Noch eklatanter verhält es sich mit dem Weltkriegsende. Die Bücherflut zum Thema 1945 in Wort und Bild übersteigt alle Erwartungen. Historische Studien, Berichte von Zeitzeugen, Memoiren, Dokumentationen, Romane, Bildbände, Doku-Fiction. Die Neuerscheinungen gehen in die Hunderte, und alle sind sie nicht auf ein Jubiläumsjahr, sondern auf einen Jubiläumstag hin geschrieben. Daraus ergeben sich für den kritischen Beobachter zwei Feststellungen und eine Frage.

Zum einen lässt sich feststellen, dass der Jubiläumskalender zum absoluten Herrscher des literarischen Lebens avanciert ist. Dichtergeburts- und -todestage, sofern sie durch zehn oder fünf teilbar sind, dominieren die Berichterstattung in den Medien wie auch die Verlagsprogramme. Die Folge ist eine Vereinheitlichung der Bücher und Themen, eine krasse Uniformität der Kulturwaren.

Kriegsende in Hannover
Hannover 1945Bild: dpa

Es ist auffallend, wie bereitwillig Verlage heute ihre Programmpolitik an das Dezimalsystem und den Kalender delegieren. Statt selber Titel und Themen zu erfinden, stellen sie ihre Programme unter das Diktat der runden Zahl und tun exakt das, was alle anderen Verlage auch tun: Sie bedienen Gedenktage mit dazu passenden Büchern. Auf das Jahr 2005 bezogen, heißt das: Welchen Buchladen auch immer man betritt, man wird auf Schiller-, Sartre- und Einstein-Biografien stoßen sowie auf Andersen-Märchenbücher und Weltkriegsgedenken in jeder Form.

Jubiläumsfetischismus mit Verfallsdatum

Zum andern lässt sich ein merkwürdiges Paradoxon beobachten. Noch nie gab es auf dem Buchmarkt zugleich so viel Auswahl und soviel Uniformität. Theoretisch sind alle Bücher der Welt greifbar und jedermann leicht zugänglich. Aber praktisch wird diese Vielfalt durch die Einfalt der Verlagsprogrammpolitik drastisch eingeschränkt. Der Konsument hat ohnehin den Verdacht, dass viel zu viele Bücher publiziert werden. Daraus ergibt sich die Frage: Wird das Interesse am Weltkriegsende den 8. Mai, wird das Interesse an Schiller den Todestag am 9. Mai überleben?

Der Jubiläumsfetischismus hat nämlich einen interessanten Haken: Das Verfallsdatum ist diesen Büchern ins Gesicht geschrieben. Schon jetzt ist abzusehen, dass alle Weltkriegs-Konjunkturbücher nach dem 8. Mai rasant veralten werden. Ob sie den Bücherherbst noch lebend und unverramscht erreichen werden, ist durchaus fraglich. Und da die Verlage Schiller mit ihren Neuerscheinungen schon im vergangenen Herbst zu Tode gefeiert haben, wirken alle jetzt erscheinenden Schiller-Titel von vornherein bereits verspätet. So überholen sich die Jubiläen schon selber.

Marktbeschleunigung und Mode-Autoren

Mit dem Phänomen der Marktbeschleunigung hat die Buchwelt schon seit längerem zu tun, ohne daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Buchmarkt ist hektisch überhitzt und sorgt für immer kürzer werdende Verfallszeiten von Druckwerken. Die Marktbeschleunigung erzwingt ständig neue Literaturmoden und ruft ständig neue Mode-Autoren aus, lässt sie aber ebenso rasch wieder fallen, um Platz zu schaffen für neue Idole, neue Namen, neue Titel, neue Jubiläumshelden. Das steigende Tempo beim Umschlag von Literatur sorgt auch für deren raschen Verfall. Aber wer weiß: Vielleicht dämmert hinter all der gedankenlosen Betriebsamkeit auf dem Buchmarkt doch einmal die Erkenntnis, dass es die Langsamkeit ist, die entdeckt werden muss.