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Vom Mythos der Single-Gesellschaft

5. April 2002

Der Vormarsch der reinen Ich-Gesellschaft ist eingedämmt zugunsten einer immer bunteren Mischung von Lebensstilen. "Defizitäre Sozialfiguren" sind "out" - so die neuesten Ergebnisse der Trendforschung.

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Glücklich allein?Bild: Bilderbox

In welchen sozialen Gefügen wir leben, hängt auch von den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ab. Über Jahrhunderte hinweg war die Großfamilie der Garant für soziale Absicherung im Alter oder bei Krankheit. Ein Dutzend Kinder zu haben, war normal.

Steigender Wohlstand und staatliche Sozialsysteme befreiten von diesem Zwang. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts setze sich die Kleinfamilie durch und wurde von der jungen Medien- und Werbewelt beschlagnahmt. Mama, Papa, Sohn und Tochter fanden sich mit der Familienpackung Toffifee in der Hand im VW-Käfer sitzend wieder.

Die 80er Jahre kamen und mit ihnen ein Paradigmenwechsel: der Single wurde zum Objekt der Begierde. Waschmaschinen hatten inzwischen alle, deshalb wurden Marken immer wichtiger, mit denen man sich von anderen abgrenzen konnte. Individualität war gefragt und die Yuppie-Zielgruppe sorgte für steigende Umsatzzahlen.

Generation Ally

ausgezeichnete Ally
Bild: AP

Nun wollen Trendforscher, die Gurus der Werbewelt, einen Wandel ausgemacht haben. TV-Kultfigur Ally McBeal symbolisiert den neuen Trend. Zwar ist sie eine konsumfreudige, erfolgreiche und blendend aussehende Single-Frau, aber sie ist kein karrieregeiles Miststück wie ihre TV-Vorgängerin Amanda aus "Melrose Place". Ally hat wirkliche Freunde, mit denen sie zusammen arbeitet. Die Kanzlei lebt in einer Freundesgesellschaft, die sich gegenseitig helfen und nicht ständig den Lover ausspannen.

Das Zukunftsinstitut von Matthias Horx hat in einer Studie zur "Zukunft der Lebensstile" herausgefunden, dass der autonome, heirats- und familienunwillige Einzelgänger nur eine Minderheit von drei Prozent ausmacht. Zwar wächst - rein statistisch gesehen - die Zahl der Einpersonen-Haushalte, aber die Singles sind bei weitem keine homogene Gruppe.

Es gibt männliche Frustsingles, weibliche Torschluss-Paniksingles, Fun-Singles und Scheidungssingles. In den Städten leben jede Menge Studenten, die ihre so genannte Jugendphase bis in die 30er ausdehnen. "Over-60ies" folgen dem "Golden Girls"-Modell und lassen sich als Witwer oder Witwe nicht mehr aufs soziale Abstellgleis rücken (siehe angehängter Artikel).

Pluralisierung der familiären Lebensform

Die zweite zentrale Erkenntnis der Zukunftsforscher: Die Familie befindet sich keineswegs in der Krise. Vielmehr entwickeln sich die Familienstrukturen – in Europa – auf vielfältigste Art weiter. Neben der - fast schon klassischen – Familie ohne Trauschein wachsen Kinder in rekonstruierten Mehrgenerations-Familien oder Patchwork-Familien auf, in denen Scheidungen normal sind und nicht zur sozialen Stigmatisierung der Beteiligten führen.

Ganz neu sind Schwulen-Familien und Distanz-Familien mit mehreren Wohnorten. Eine Renaissance erlebt die Dienstleistungs-Familie, in der Hauspersonal wieder zur "Familie" gehört.

"Es gibt keinen Trend zur Single-Gesellschaft", sagt auch Professor Norbert F. Schneider von der Universität Mainz. Der Soziologe hat mit Kollegen im Auftrag des Bundesministeriums für Familie eine Studie "Wie leben die Deutschen?" erstellt.

"Wir leben ganz klar in einer paarorientierten Gesellschaft. Der größte Teil, etwa 90 Prozent - das gilt auch für die Jugend - will in einer Partnerschaft leben." Die von der Lebensmittel-Industrie konzipierten Single-Kleinpackungen landeten meist im Familienkühlschrank, um die Sonderwünsche der Einzelnen zu erfüllen, berichtet Trendforscherin Christiane Friedemann.

"Das Single-Dasein ist eine defizitäre Sozialfigur", meint der Soziologe Dirk Kaesler von der Universität Marburg. Das Bedürfnis nach Nähe zu einem vertrauten Menschen sei eine anthropologische Konstante. Das Paar sei die Urfigur des Nicht-Alleine-Lebens – allerdings könne das heutzutage viel heißen. Man lebe als Paar auf Bewährung. Kollidiert der Anspruch an Individualität zu stark mit dem Leben im Paar, steigt man aus dem Paar wieder aus – meistens um eine neue Paar-Konstellation zu suchen. (kas)