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Vom Winde verweht

10. Juli 2009

Es mag eine irrationale Angst sein - aber der Störfall im AKW-Krümmel ruft eine böse Erinnerung an den GAU in Tschernobyl hervor, findet Hans Pfeifer.

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Bild: DW

Für die letzte Aprilwoche im Jahr 1986 sagte der Wetterbericht Regen voraus. Wind Ost bis Südost. Regen ist in Schleswig-Holstein nichts Besonderes. Wind von Ost bis Südost schon. In der letzten Aprilwoche 1986 löste diese Kombination eine beklemmende Angst bei uns aus. Denn 1387 Kilometer östlich von meinem Elternhaus in Schleswig-Holstein liegt Tschernobyl.

Tschernobyl war explodiert. Und der Ostwind trug die radioaktiven Teilchen auch nach Deutschland. Und der Regen spülte sie in unseren Boden. Die Folgen waren verstörend. Spielplätze wurden gesperrt. Schulsport im Freien abgesagt. Fenster sollten geschlossen bleiben. Atomangst.

Stilles Kopfschütteln

Krümmel liegt nur rund 40 Kilometer südöstlich von meinem Elternhaus. Es ist ein kleiner Ortsteil einer kleinen Stadt an der Elbe. 1986 haben wir einen Schulausflug nach Krümmel gemacht. Physikunterricht mit Dr. Reuter. Denn in Krümmel steht der leistungsstärkste Siedewasserreaktor der Welt. Ein AKW. Ein Atomkraftwerk. Oberstudienrat Reuter war für uns ein Genie, seine Begeisterung für den technischen Fortschritt, für die Logik komplexer Maschinen ansteckend. Und er war ein bescheidener Mann. Die Atom-Ingenieure in Krümmel waren nicht bescheiden. Sie trugen weiße Kittel und nüchterne Metallbrillen. Sie redeten kryptisch über Turbinenkondensatoren. Reuter ermunterte uns, Fragen zu stellen. Die Ingenieure antworteten lässig. Und gelangweilt. Über absolute Sicherheit, über Technikfeindlichkeit und darüber, dass Deutschland nicht die Ukraine sei und Krümmel nicht Tschernobyl. Reuter stand zurückhaltend in der Ecke. Wir haben nichts von den gelangweilten, technokratischen Vorträgen der Metallbrillen verstanden. Aber registriert, dass Reuter immer wieder still den Kopf schüttelte.

Im Mai 1986 wurde Krümmel abgeschaltet. Ein Defekt.

Seit dem 1. Juli 2009 ist Krümmel wieder abgeschaltet. Reaktorschnellabschaltung. Nach einer Panne. Transformatorbrand. Und ein defekter Brennstab. Keinerlei Sicherheitsrisiko, gibt der Betreiberkonzern Vattenfall Entwarnung. Krümmel werde wieder in Betrieb genommen.

Von Erfahrung gespeiste Angst

In Schleswig-Holstein haben wir bis heute Angst vor Krümmel. Sogar mehr Angst als früher. Vielleicht ist sie "nur" irrational. Denn in Krümmel ist ja alles nach Plan gelaufen: Panne, Alarm, Abschaltung. Die Sicherheitsmaßnahmen haben funktioniert. Aber wie auch vor 23 Jahren haben die Kraftwerksbetreiber nicht verstanden, dass unserer Angst eine ganz rationale Erfahrung zugrunde liegt: 1986. Mein Elternhaus in Schleswig-Holstein. Fenster schließen, Spielplatz zu.

Vattenfall verdient das Misstrauen der Menschen. Man könnte meinen, dass die technokratischen Metallbrillen von damals die Konzernspitze von heute sind: unsensibel für die Welt außerhalb der Kraftwerksmauern. Allein diese Woche musste der Konzern gleich mehrere Pannen einräumen. Ach ja, auch dass man vergessen habe, vorgeschriebene Sicherheitssysteme einzubauen. Menschliches Versagen. Bei Flugzeugen ist es die häufigste Absturzursache. Bei einem Atomunfall in Deutschland wäre das für die Menschen kein Trost. Günstige Winde auch nicht.

Autor: Hans Pfeifer
Redaktion: Martin Schrader