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"Von Attentat nicht einschüchtern lassen"

Jochen Kürten
20. Dezember 2016

Der Therapeut Christian Lüdke empfiehlt, sich nach dem schrecklichen Attentat von Berlin nicht zu Hause einzuschließen. Gleichzeitig warnt er im DW-Interview vor unseriöser Berichterstattung und Hysterie.

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Trauma-Experte Christian Lüdke
Trauma-Experte Christian LüdkeBild: Fotostudio Bildnis/C. Lüdke

Deutsche Welle: Was genau ist eigentlich ein Trauma, was versteht man darunter?

Christian Lüdke: Trauma ist das griechische Wort für Wunde. Es wurde zuerst verwendet von Chirurgen, die von Schnittverletzungen gesprochen haben. Im übertragenen Sinne bedeutet Trauma heute eine seelische Wunde. Ein Trauma tritt immer dann ein, wenn wir als Menschen extrem belastende Situationen erleben. Es ist also wie eine Schnittwunde, aber eine Schnittwunde, die heilt, wenn man die Wunde richtig versorgt. Wenn man sie reinigt und abdeckt, dann heilt sie. Das Gleiche gilt auch für seelische Verletzungen. Das heißt, immer wenn solche Ereignisse wie jetzt gestern in Berlin passieren, dann erleben Menschen ganz außergewöhnliche Symptome. Sie stehen unter Schock, sie haben sehr belastende Erinnerungsbilder in sich. Aber auch diese Wunde heilt, wenn wir die Wunde reinigen.

Was kann dabei helfen?

Hier sind Informationen gefragt. Wir brauchen viele gesicherte Informationen. Wir müssen auch aufgeklärt werden über die Normalität der Symptome. Das heißt: Die Symptome, die Menschen jetzt zeigen, egal wie ungewöhnlich sie sind, sind immer eine normale Reaktion auf ein verrücktes Ereignis. Also: Nicht ich bin verrückt, wenn ich jetzt nicht schlafen kann, wenn ich mich unsicher fühle, ein mulmiges Gefühl habe, sondern das, was geschehen ist, das ist das Verrückte, das Außergewöhnliche. Und das zieht eben immer außergewöhnliche Situationen und Reaktionen nach sich.

Deutschland Berlin nach Anschlag auf Breitscheidplatz - Trauer
Solidarität mit Opfern und Angehörigen: Blumen am Tatort in BerlinBild: DW/B. Knight

Wenn Sie "gesicherte Informationen" ansprechen, ist das wohl auch als ein Appell an die Medien zu verstehen, jetzt nicht in Hysterie zu verfallen, sondern weiterhin seriös zu berichten?

Absolut! Es ist ganz wichtig, fortlaufend zu berichten, allerdings muss es seriös sein. Und es sollten nur seriöse und abgesicherte Informationen verwendet werden. Sonst kann das gefährlich sein, gerade bei den "Neuen Medien", die im Grunde eine Hilfe sein könnten. Wenn ich mir also zum Beispiel ansehe, was die Polizei postet, dann kann ich sicher sein. Dramatischer und gefährlicher wird es, wenn solche Informationen gemischt werden mit eigenen Befürchtungen oder mit Verschwörungsfantasien. Dann bekommt das plötzlich eine Dynamik, die überhaupt nicht hilfreich ist, sondern am Ende mehr schadet als hilft.

In den "Neuen Medien" wird für Solidarität geworben. Wie wichtig ist das für die Menschen?

Ich finde die Anteilnahme unglaublich wichtig, weil wir Menschen in solchen Augenblicken eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Und da trifft die Redeweise zu: "Geteiltes Leid ist halbes Leid". Es ist ganz wichtig zu sehen: 'Ich bin nicht allein damit und es ist auch nicht ungewöhnlich, wie ich reagiere, ich muss mich dafür nicht schämen, weil ich weiß, dass sehr viele Menschen genauso reagieren und empfinden wie ich.' Es ist wichtig, sich auszutauschen und eine Gemeinschaft zu bilden, weil es ja auch die Bereitschaft beinhaltet, aufeinander aufzupassen und damit der Gewalt und dem Terror ein starkes Gegengewicht entgegenzubringen.

Nach den Anschlägen in jüngster Zeit ist immer wieder diskutiert worden, wie man sich jetzt verhalten soll. Soll man die Öffentlichkeit meiden? Oder gerade nicht - mit dem Argument: Ich will mir meinen Lebensstil nicht von außen bestimmen lassen. Gibt es da überhaupt einen Ratschlag oder bleibt das jedem selbst überlassen?

Generell würde ich schon sagen, dass eine Botschaft an die Menschen und die Öffentlichkeit wäre, sich eben nicht einschüchtern zu lassen, sich nicht abbringen zu lassen davon, was Menschen tagtäglich tun. Dann hätten die Terroristen oder die Menschen, die dahinter stecken, genau ihr Ziel erreicht, nämlich Angst und Schrecken zu verbreiten und einzuschüchtern. Das sollten wir auf keinen Fall machen.

Deutschland OB Michael Müller Gedächniskirche in Berlin
Berlins Oberbürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche nahe des Anschlagsortes ins Kondolenzbuch ein Bild: Reuters/P. Kopczynski

Man muss jetzt auch keine übermäßige Angst haben. Klar, es gibt natürlich Einzelfälle, dass Menschen vielleicht übergroße Ängste haben. Die können natürlich selbst entscheiden, vielleicht nicht raus zu gehen und zu Hause zu bleiben. Aber in einer offenen Gesellschaft, in der wir leben, gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Von daher sollten wir möglichst schnell wieder in die Normalität des Alltags zurückkehren, denn der Alltag gibt uns Sicherheit, im Alltag kennen wir uns aus. Wir sollten uns auch nicht davon abhalten lassen, heute auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, unsere Weihnachtsgeschenke einzukaufen, Großveranstaltungen zu besuchen. Natürlich sind Menschen sensibilisiert worden. Sie sind jetzt achtsamer und wachsamer. Aber wir sollten auch darauf achten, dass die Hoheits-Behörden, Polizei und Justiz, sehr intensiv daran arbeiten, die Ursachen zu bekämpfen. Das ist die einzige Möglichkeit, auf Dauer eine Lösung zu finden. Die Menschen sollten sich jetzt nicht einschüchtern lassen und weiter rausgehen.

Die Debatte um die Flüchtlinge kocht wieder hoch. Wie kann man sich emotional dagegen schützen, Schuldige oder Sündenböcke für solche Ereignisse zu finden? Was kann man tun, um nicht in Hysterie zu verfallen?

Man kann sich eigentlich nur schützen, indem man sich sehr genau informiert. Es darf hier nicht - was oft typisch ist bei Menschen - eine Vorurteilsbildung erfolgen. "Die Flüchtlinge" sollte man nicht pauschalisieren. Darunter (unter den Flüchtlingen, Anmerk. der Red.) sind ganz wundervolle und tolle Menschen. Es gibt unter Flüchtlingen, wie aber auch in unserer Gesellschaft, einzelne Menschen mit einer hohen kriminellen Energie, die teilweise auch einer radikalen Gruppe angehören. Man muss hier genau unterscheiden, wer dieser Mensch ist und welche Ideologie er verfolgt. Man darf nicht pauschalisieren, indem man sagt: "Alle Flüchtlinge sind…". Davor würde ich dringend warnen!

Dr. Christian Lüdke (56) ist klinischer Hypnose-Therapeut in Essen, spezialisiert u.a. auf den Umgang mit Trauma-Patienten. Lüdke ist im Bereich der klinischen Akut-Intervention tätig, betreut mit seinem Unternehmen "Terapon" bundesweit und international Menschen nach traumatischen Ereignissen wie Terroranschlägen.

Das Gespräch führte Jochen Kürten