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Kann Lesen heilen?

Jochen Kürten25. Oktober 2012

Wie geht man mit dem Tod eines nahen Angehörigen um? Kann die Literatur dabei helfen? Die Autorin Nina Sankovitch beschreibt in ihrem Buch "Tolstoi und der lila Sessel" ihre Erfahrungen.

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Library, Bücherwand, Buchgeschäft, Buchladen, Spanien Bild: Fotolia/PANORAMO #19772558
Symbolbild Literatur BelletristikBild: Fotolia/Panoramo

Bücher über den Tod sind in den letzten Jahren populär. Das Schreiben über das Sterben von nahen Angehörigen hat sich fast zu einem eigenen Subgenre entwickelt. Es hat großartige Bücher hervorgebracht. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Joan Didions bewegenden Text "Das Jahr magischen Denkens", der in Deutschland vor sechs Jahren erschien. Auch Bücher über das Lesen erfreuen sich seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Wie Menschen mit der alten Kulturtechnik umgehen, wie sie über ganz persönliche Leseerfahrungen berichten, kann für andere Leser inspirierend und voller Überraschungen sein.

Die amerikanische Autorin Nina Sankovitch hat beides kombiniert. In "Tolstoi und der lila Sessel" beschreibt sie, wie sie den Tod der eigenen, geliebten Schwester verarbeitet hat. Zunächst mit Arbeitswut und einem rastlosem Leben zwischen Beruf und Kindererziehung, zwischen Öffentlichem und Privatem. Als sie merkt, dass all das nur Verdrängung und Flucht ist, verordnet sie sich eine ganz und gar eigenwillige Therapie: Sie nimmt sich vor, ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen. Sie schreibt darüber regelmäßig im Internet in einem Blog und - nach Ablauf des Jahres - ein Buch über das Bücherlesen: "Tolstoi und der lila Sessel".

"Ich suchte Frieden und entdeckte Glück"

"Durch das Lesen von Geschichten, von Büchern, fand ich meine Schwester wieder", schreibt Nina Sankovitch. Und wenig später: "Ich erinnerte mich an den Auftrag, den mir das allererste Buch meines Lesejahres, 'Die Eleganz des Igels', erteilt hatte: Augenblicke der Schönheit auszukosten, das 'Immer im Nie'. Ich suchte Frieden und entdeckte Glück. Mein Pfad in die Zukunft lag deutlich vor mir: Es war ein Pfad, der von Worten erleuchtet war, die sich zu Sätzen und Absätzen, Kapiteln und Büchern verbanden. Mein Pfad war mit Büchern gepflastert."

Tolstoi und der lila Sessel [Kindle Edition] Nina Sankovitch (Autor), Anke Caroline Burger (Übersetzer), Susanne Höbel (Übersetzer) Achtung: Nur zur Rezension dieses Artikels verwenden!
Buchcover Tolstoi und der lila SesselBild: BuUllstein

Jeden Morgen, sobald die Kinder in der Schule sind, der Mann bei der Arbeit, nimmt sich Nina Sankovitch ein neues Buch vor. Einzige Voraussetzung: es darf nicht allzu dick sein, kaum über 300 Seiten. Meist muss sie ihre Lektüre dann irgendwann unterbrechen und kommt erst am späten Abend zu den letzten Kapiteln. Nina Sankovitch liest bekannte Autoren und weniger bekannte Schriftsteller, Altes und Neues, US-Autoren und auch viel Europäisches. Eine Liste mit den 365 Büchern ist ebenso am Schluss des Buches zu finden wie Hinweise, ob die Texte ins Deutsche übertragen wurden.

"Mithilfe von Büchern eignen wir uns andere Erfahrungen an und lernen neue Lektionen", schreibt die Autorin über diese eigenen Erfahrungen, die sie in diesem einen Jahr macht. Sie schreibt darüber, wie sie mit dem Tod der Schwester umgeht, wie sich bestimmte Einstellungen zum Leben umgestalten, wie sich Familienbeziehungen verändern. Das klingt an der einen oder anderen Stelle ein wenig nach Ratgeberliteratur und manchmal wiederholt sich die Autorin allzu oft. Doch "Tolstoi und der lila Sessel" ist vor allem eines: Ein schönes Buch über Bücher und das Lesen. Ein Buch, das uns vor Augen führt, dass Lesen viel mehr ist als ein Zeitvertreib. Bücher lesen heißt Leben, Erfahrungen sammeln, neue Perspektiven auf das Leben eröffnen.

Nina Sankovitch: Tolstoi und der lila Sessel, Graf Verlag bei Ullstein, Berlin 2012, 288 Seiten, ISBN 978 3 86220 027 6.