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Neue Identität und alte Gespenster

Victoria Dannemann31. Juli 2011

In der deutschen Enklave im Süden Chiles wurden seit ihrer Gründung vor einem halben Jahrhundert grausame Menschenrechtsverletzungen begangen. Heute versucht Villa Baviera, die dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen.

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Mädchen in bayerischen Trachten bei einem Fest in der ehemaligen Colonia Dignidad im Süden Chiles - das Dorf nennt sich heute Villa Baviera (Foto: Archivo Villa Baviera)
"Bayerische Idylle" in Südchile: die frühere Colonia Dignidad heißt heute Villa BavariaBild: Archivo Villa Baviera

Kindesmissbrauch, Waffenschmuggel und Steuerhinterziehung, das sind nur einige der Verbrechen, die der früheren Führungsriege der Colonia Dignidad zur Last gelegt werden. Jahrzehntelang war die deutsche Siedlung im Süden Chiles ein Staat im Staat und ein nahezu rechtloser Raum. Die Auseinandersetzungen um die in Villa Baviera umbenannte Enklave gelten als Symbol im Kampf für die Menschenrechte.

Viele der ehemaligen Bewohner sind inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt, oder leben heute in anderen Orten Chiles. Von den einst bis zu 300 Bewohnern leben heute nur noch 180 in Villa Baviera. Die Generation der Kinder der einstigen Führungsriege, die jetzt Anfang 40 ist, leitet die Geschäfte der ehemaligen Colonia Dignidad, die heute von Landwirtschaft, Gastronomie und Tourismus lebt. Villa Baviera wirbt mit einem eigenen Restaurant, einem Festsaal für Veranstaltungen, Unterkünften für Touristen und mit traditionellen deutschen Spezialitäten aus eigener Herstellung.

"In den letzten Jahren haben wir viel dafür getan, Licht in unsere dunkle Vergangenheit zu bringen, wir haben eng mit der deutschen und der chilenischen Regierung zusammengearbeitet", betont Martin Matthusen, einer der Geschäftsführer von Villa Baviera.

Einer der Geschäftsführer von Villa Baviera: Martin Matthusen mit seiner Familie (Foto: Archivo Villa Baviera)
Einer der Geschäftsführer von Villa Baviera: Martin Matthusen mit seiner FamilieBild: Archivo Villa Baviera

Meinungsvielfalt statt Einheitsmeinung

Bis vor kurzem war Matthusen bekannt als "Sprecher" der deutschen Gemeinde, aber diese Bezeichnung lehnt er ab. "Wir haben keinen Sprecher, denn es gibt keine einzelne Stimme, die für alle Bewohner von Villa Baviera sprechen könnte", so Matthusen. "Wir sind in erster Linie eine Gruppe von Familien mit einer gemeinsamen Geschichte. Was uns jetzt zusammenhält, ist die gemeinsame Arbeit in der Landwirtschaft und im Tourismus."

Matthusen gibt zu, dass es auch Differenzen innerhalb der Familien gibt. "Das wird es immer geben, wir werden nie wieder zu dem früheren Zustand zurückkehren. Heute gibt es hier so viele Meinungen wie Bewohner. Und unsere Ansichten unterscheiden sich von denen der Älteren, die damals aktiv mitgewirkt haben in der Colonia Dignidad. Von ihnen kann man nicht erwarten, dass sie die Vergangenheit verurteilen, sie heben die guten Seiten hervor, wie zum Beispiel das Krankenhaus."

Zu den "dunklen Seiten" äußert sich aber auch Matthusen nur vage: "Viele Leute haben hart arbeiten müssen, um das hier aufzubauen und es zu erhalten. In unserem Krankenhaus ist vielen Menschen geholfen worden. Aber Paul Schäfer hat es auch missbraucht, um sich hinter dieser Fassade zu verstecken", gibt er zu.

Die langen Schatten der Vergangenheit

Luftaufnahme von Villa Baviera im Süden Chiles (Foto: Archivo Villa Baviera)
Villa Baviera lebt heute von Landwirtschaft und TourismusBild: Archivo Villa Baviera

Einige der ehemaligen Führungspersonen der Colonia Dignidad sind inzwischen in Chile verurteilt worden. Andere, wie zuletzt Hartmut Hopp, haben sich durch ihre Flucht nach Deutschland der chilenischen Justiz entzogen.

Paul Schäfer selbst war 1997 die Flucht nach Argentinien gelungen, wo er jedoch acht Jahre später verhaftet werden konnte und nach Chile ausgeliefert wurde. Er starb 2008 in einem Gefängniskrankenhaus in Santiago.

Im Alltag in Villa Baviera ist es für die Nachkommen der Sekten-Gründer nicht einfach, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, gibt Martin Matthusen zu. "Das Zusammenleben mit den früheren Verantwortlichen ist nicht einfach. Es sind ja zum Teil unsere direkten Verwandten, Väter, Onkel, Großväter, da kann man nicht einfach einen Schnitt machen. Die familiären Bande vermischen sich mit unserer Geschichte. Wir können sie nicht ausschließen. Dieser Ort gehört ihnen genauso wie uns. Wir haben uns mit ihnen arrangiert, aber sie leben sehr zurückgezogen und haben keinen Einfluss mehr."

Eine neue Generation

Rund siebzig Senioren leben heute noch in Villa Baviera, die meisten von ihnen sind weit über siebzig Jahre alt und auf medizinische Versorgung angewiesen. Doch inzwischen gibt es auch eine stetig wachsende Enkelgeneration, erzählt Matthusen: "In den letzten Jahren haben viele von uns geheiratet und Familien gegründet. Die Kinder sind heute zwischen einem und acht Jahre alt. Nicht alle Familien leben mehr innerhalb der Villa Baviera." Zur neuen Normalität gehört auch, dass das deutsche Dorf zu einem nicht unbedeutenden Arbeitgeber in der Region geworden ist. Von den 300 Angestellten in der Landwirtschaft und den Tourismusbetrieben gehören nur 60 zur Villa Baviera, die anderen kommen aus den umliegenden Dörfern.

Vor der 'Colonia Dignidad' Siedlung in Parral, knapp 400 Kilometer südlich von Santiago in Chile, demonstrieren am 5. Mai 1988 Angehörige von chilenischen Jugendlichen, die dort angeblich festgehalten werden (Foto: dpa)
Demonstration von Angehörige von Folteropfern, die in die Colonia Dignidad verschleppt wurdenBild: dpa

Die Bewohner der ehemaligen Colonia Dignidad haben nicht nur eine dunkle Vergangenheit hinter sich, sondern auch eine wahre Zeitreise ins 21. Jahrhundert. "Früher lebten wir in Gemeinschaftsunterkünften, nach Männern und Frauen getrennt. Niemand durfte heiraten oder Kinder bekommen. Wir hatten keinen Zugang zu Medien wie Fernsehen oder Internet", erinnert sich Matthusen an seine eigene Kindheit und Jugend. Heute sei alles anders. "Wir sind offen geworden, empfangen Gäste und beantworten auch ihre Fragen zu unserer Vergangenheit. Wir beziehen Stellung. Ja, es gab Übergriffe, Menschenrechtsverletzungen, Waffenschmuggel. Meine Generation ist dafür zwar nicht verantwortlich, aber wir müssen das aufarbeiten." Ende 2011 soll ein Museum eröffnet werden, in dem Fotos und Dokumente über die Vergangenheit Auskunft geben.

Zweifel an dem neuen Image

Wolfgang Kneese gelang 1965 die Flucht aus Colonia Dignidad (Foto: Wolfgang Kneese)
Wolfgang Kneese gelang 1965 die Flucht aus Colonia DignidadBild: Wolfgang Kneese

Wolfgang Kneese, dem 1965 als Erstem die Flucht aus der abgeschotteten Colonia Dignidad gelang, ist von dem neuen Image nicht überzeugt. "Da wird die Schaufensterdekoration verändert, und es wird ausgemistet. Aber die Bewohner der heutigen Villa Baviera sind Zöglinge eines perversen Systems. Diejenigen, denen die Flucht gelang, haben das durchschaut. Erst in Freiheit kann es gelingen, wirklich zu einer neuen Einschätzung zu gelangen."

Auch der Anwalt der sexuellen Missbrauchsopfer in der Colonia Dignidad, Hernán Fernández, bezweifelt den tiefgreifenden Wandel. "Ich denke, es gibt nach wie vor Konflikte zwischen den Angehörigen der Führungspersonen und jenen, die die Enklave nicht verlassen, weil sie keine andere Möglichkeit haben, um zu überleben. Man hat versucht, Colonia Dignidad ein neues Image zu verpassen, aber das ist keine Lösung der Probleme."

Geschäftsführer Matthusen betont hingegen, das die Verantwortlichen der Villa Baviera in allen Angelegenheiten eng mit der chilenischen Justiz zusammenarbeiten und heute "vollständig in die chilenische Gesellschaft integriert" seien.