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Von Marx bis Migrationsforschung

9. Juni 2009

Das "HIS" zählt zu den profiliertesten Einrichtungen der Sozialforschung. Mit der zunächst umstrittenen "Wehrmachtsausstellung" wurde es der breiten Öffentlichkeit bekannt - und prägte das historische Bewusstsein.

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Porträt des Institutsgründers Jan Philipp Reemtsma 2003 (AP Photo/ Jan Bauer)
Institutsgründer Jan Philipp Reemtsma 2003Bild: AP

Der spinnt, dachten viele, als Jan Philipp Reemtsma 1984 das Hamburger Institut für Sozialforschung gründete. Da war er 32. Man wusste, er hatte Literaturwissenschaft und Philosophie studiert, über einen Dichter des 18. Jahrhunderts, Christoph Martin Wieland, promoviert und er schätzte das Werk Arno Schmidts. Und nun wollte der Schöngeist ein wissenschaftliches Institut stiften. Möglich geworden war das durch den Verkauf seiner Mehrheitsanteile am Reemtsma-Konzern.

Ursprünglich sollte ein Beirat die Geschicke des Hauses lenken. Jan Philipp Reemtsma wollte mit anderen Leuten, die ähnliche Interessen und ähnliche theoretische Präferenzen hatten wie er, zusammenarbeiten. "Ich habe dann lernen müssen, dass, man nicht 'inter pares' ist, wenn man derjenige ist, der ein solches Institut finanziert", sagt er. So übernahm er selbst die Position des geschäftsführenden Vorstands am Hamburger Institut für Sozialforschung, HIS.

Freie Forschung statt Politikberatung

Jan Philipp Reemtsma vor Bildern der Ausstellung 'Verbrechen der Wehrmacht' im Jahr 2001. (AP Photo/Jockel Finck)
Jan Philipp Reemtsma in der Ausstellung 'Verbrechen der Wehrmacht' 2001Bild: AP

Zunächst beschränkte sich die Arbeit des HIS auf die Förderung einzelner Projekte und orientierte sich theoretisch an der analytischen Sozialpsychologie, einer Verbindung von Marxscher Gesellschaftskritik und Freudscher Psychoanalyse. Das sei ein Irrweg gewesen, sagt Reemtsma heute. Die Forschung im Institut folgt keiner allgemein gültigen Theorie mehr. Sie gliedert sich in drei Arbeitsbereiche: Erstens "Die Gesellschaft der Bundesrepublik". Leiter ist der Soziologe Heinz Bude, Autor des vielbeachteten Buchs "Die Ausgeschlossenen". Dabei geht es unter anderem um die Erforschung des gesellschaftlichen Wandels und die Auswirkungen von Hartz IV. Zweitens "Nation und Gesellschaft", geleitet von Ulrich Bielefeld, einem ausgewiesenen Migrationsforscher. Hier befassen sich Forscher mit den Prozessen politischer Vergesellschaftung und Moral und den veränderten Organisationsformen von Macht. Drittens schließlich "Theorie und Geschichte der Gewalt": Historiker Bernd Greiner leitet diesen Bereich. Im Mittelpunkt stehen die Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert sowie Krieg und Terror im 21. Jahrhundert.

Bibliothek mit Bücherregalen, langer, hell beleuichteter Flur, im Hintergrund Menschen bei der Arbeit (Copyright: Hamburger Institut für Sozialforschung)
Beste Arbeitsbedingungen: Bibliothek und ArchivBild: Hamburger Institut für Sozialforschung

Das HIS orientiert seine Forschungsarbeit nicht am Alltagsgeschäft von Politikberatung. Es ist politisch unabhängig; darauf hat Jan Philipp Reemtsma immer Wert gelegt. Das Institut verzichtet auf allgemeine politische Statements, es tritt nur mit Studien, Vorträgen und Aufsätzen, mit der Zeitschrift "Mittelweg 36" und Büchern aus dem hauseigenen Verlag an die Öffentlichkeit.
"Wir sind ein Institut, das sich nur selbst beauftragt. Aber wir wollen uns auch in der Wissenschaftsszene bewähren und gleichzeitig eine Theorie zum Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaft erarbeiten. Und das auf intellektuell anspruchsvolle Weise", sagt Ulrich Bielefeld.

HIS-Wissenschaftler: gefragte Experten

Das HIS hat sich in den vergangenen 25 Jahren einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Etliche Forscher lehren an in- und ausländischen Universitäten und nehmen zum Teil Gastprofessuren wahr. Ein Stipendium oder eine Mitarbeit am HIS gelten als wichtiger Baustein für die Karriere junger Wissenschaftler. Das HIS muss die Konkurrenz anderer Institute nicht fürchten.

Im Gegenteil. Die Wissenschaftler schwärmen von den guten Arbeitsbedingungen. Es gibt ein Fachbibliothek mit 40.000 Bänden, die greifbar und in nicht Magazinen versteckt sind, und 260 Zeitschriften, die das HIS abonniert hat; ein Archiv mit Quellen zur Zeitgeschichte und eine Sondersammlung zum Thema Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik. Und, vor allem, überall kompetente Mitarbeiter, die bei der Recherche helfen.

Den öffentlichen Diskurs beeinflussen

Mitarbeiterinnen der Trierer Tafel verteilen am Dienstag (05.05.2009) in Trier Lebensmittel an Bedürftige. Menschen erhalten kostenlose Lebensmittel, Helfer verteilen Lebensmittel aus großen Kisten, Bedürftige füllen ihre Einkaufstaschen und Rollwägelchen +++(c) dpa - Report+++
Beim HIS schon lange im Blick: Prekariat in DeutschlandBild: picture-alliance/ dpa

Er glaube, dass es dem HIS in den vergangenen Jahren mehrfach gelungen sei, mit seinen Beiträgen bis in die breite Öffentlichkeit hineinzuwirken, sagt Jan Philipp Reemtsma.
In der Tat hat es das HIS mehrfach geschafft, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Allen voran mit der sogenannten "Wehrmachtsausstellung". Diese Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, die ab 1995 in vielen Städten gezeigt wurde, hat über Jahre zu erregten Debatten geführt.

Sie stürzte das Institut jedoch auch in seine größte Krise. Als sich herausstellte, dass die Ausstellung Fehler enthielt - einige wenige Bilder waren falsch zugeordnet und beschriftet worden - war das Wasser auf die Mühlen der Gegner, die die Verbrechen der Wehrmacht immer bestritten hatten. Jan Philipp Reemtsmas kluge Vorgehensweise bewahrte das Institut vor einem Imageverlust. Statt lange Verteidigungsreden zu schwingen, nahm er die Fehler ernst und handelte. Er zog die Ausstellung zurück, ließ sie überarbeiten und brachte sie dann erneut heraus. Eine Investition, die sich gelohnt hat. "Niemand kann mehr über dieses Thema so reden wie vor 1995", betont Jan Philipp Reemtsma. An den Verbrechen der Wehrmacht besteht heute kein Zweifel.

Auch mit anderen Themen sorgt das HIS gelegentlich für Diskussionen. So begann man sich dort bereits früh mit dem zu befassen, was heute unter dem Stichwort Prekariat abgehandelt wird. Beteiligt ist daran eine ganze Riege junger Wissenschaftler. Thema des großangelegten Projekts sind die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels. Ein Wandel, der die gesamte Bundesrepublik betrifft.

Autorin: Heide Soltau
Redaktion: Aya Bach