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Von Pfarrerin Petra Schulze, Düsseldorf

21. Januar 2012

„Verantwortungsverwirrung“

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Evangelische Pfarrerin Petra Schulze, Düsseldorf
Bild: Petra Schulze

Berlin, zweiter Weihnachtsfeiertag 2011. Mitten in der Nacht sitzt ein Mann an seinem Laptop und verfolgt die neuesten Meldungen aus Syrien. Er hat in Deutschland Asyl bekommen, weil er in seiner Heimat politisch verfolgt wurde. Er ist Mitglied des oppositionellen Syrischen Nationalrates. Da klopft es an der Tür. Der Mann denkt: Das könnte mein Nachbar sein. Vielleicht habe ich die Boxen doch zu laut gestellt und er fühlt sich durch die Geräusche gestört. "Wer ist da?", fragt er. "Polizei“, lautet die Antwort. Der Mann macht auf – doch nicht die Polizei steht vor seiner Tür, sondern unbekannte Männer ohne Uniform. Sie dringen in die Wohnung und prügeln mit Knüppeln auf ihn ein. Dass er diesen Anschlag überlebt hat, verdankt der syrischstämmige Menschenrechtsaktivist, Dolmetscher und grüne Kommunalpolitiker aus Berlin seinem Nachbarn. Der hörte seine Schreie und öffnete seine Wohnungstür. Die unbekannten Angreifer flohen.

Der Nachbar hat nicht weggehört. Er hat nicht abgewartet, ob vielleicht ein anderer die Polizei ruft. Er hat gehandelt. Immer wieder werden Menschen in unserer Umgebung Opfer krimineller Handlungen: Sie werden überfallen, geschlagen, gequält oder werden Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht. In China schockierten die Bilder einer Überwachungskamera1: Da läuft ein zweijähriges Mädchen vor dem Geschäft seines Vaters auf die Straße. Ein herannahender Transporter stoppt nicht ab, sondern überfährt die Kleine. Minutenlang liegt sie schwer verletzt mitten auf der Straße, während Passanten achtlos vorbeigehen oder in einem Bogen vorbeifahren.

Eine Psychologin nennt das „Verantwortungsverwirrung“. Es war rush hour, viele Menschen waren unterwegs nach Hause und jeder dachte wohl: Da sind ja genügend andere, einer oder eine wird sich schon kümmern. Das dauerte zehn Minuten. Zehn Minuten, die dem Mädchen vielleicht das Leben gekostet hätten. So wurde es durch das beherzte Eingreifen einer Passantin gerettet. Ähnlich erging es auch einem Mann, von dem Jesus erzählt (Lukas 10,30ff): Er wird auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallen und liegt schwer verletzt am Wegesrand. Immer wieder kommt jemand vorbei, auch sehr religiöse Leute – aber niemand hilft. „Ach, hier kommen ja genügend Menschen vorbei, einer wird sich schon kümmern.“ – „Ich bin in Eile und wenn ich jetzt anfange, dem zu helfen, ist der Tag um, was da noch an Ärger auf mich zukommt. Dann muss ich vielleicht auch noch als Zeuge zur Polizei, nee, soll doch lieber ein anderer….“ Am Ende erbarmt sich jemand und hilft. Übernimmt Verantwortung. Es ist einer, der in den Augen der Frommen, denen Jesus die Geschichte erzählt, ein Ungläubiger ist. Er ist offenbar nicht von dem Virus „Verantwortungsverwirrung“ infiziert.

Die Verantwortungsverwirrung ist auch ein Schutz. Gerade wenn ich Zeugin eines Überfalls werde, muss ich mich ja fragen: Wie schreite ich richtig ein, ohne mich selbst zu gefährden? Das heroische Dazwischengehen hält auch die Polizei für problematisch. Wichtig ist: hinschauen, sich Verbündete suchen – Umstehende, Nachbarn – und die Polizei informieren.

Und am Ende dann auch bereit sein, sich als Zeugin oder Zeuge zur Verfügung zu stellen, damit das Opfer nicht allein bleibt. Das gilt nicht nur für die schweren Gewalttaten, sondern für alles Unrecht, das geschieht. Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner hat das so zusammengefasst: „Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breit macht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils `zuständige` Stelle. …. Jeder von uns und euch muss es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handele, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem.“ 2

1 http://www.welt.de/videos/panorama/article13666674/Kleines-Maedchen-wird-ueberfahren-und-niemand-hilft.html#autoplay

2 Erich Kästner, Die vier archimedischen Punkte, aus: Die kleine Freiheit, Atrium Verlag, Zürich 1952 und Thomas Kästner.