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Von Straßen und Idioten

Stephan Hille6. Januar 2004

Wer seines Lebens müde ist, der begebe sich auf die Straßen Russlands. Am besten auf der Fahrerseite irgendeiner Blechkarosse. Für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte, gibt's ja jetzt die Haftpflichtversicherung ...

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Russland leidet an zwei Übeln, meinte einst der Schriftsteller Nikolaj Gogol: An den Straßen (dorogi) und an den Idioten (duraki). Zwar stammt die Diagnose aus dem 19. Jahrhundert, also weit vor der Automobilisierung, doch das Urteil des großen russischen Schriftstellers hat noch heute Gültigkeit: Russlands Straßen zählen weltweit zu den gefährlichsten.

Und das liegt weniger an der Qualität der russischen Straßenbauer, als an der Qualität der Fahrzeuglenker. Laut offizieller Statistik verursachte die Gogolsche Kombination, dorogi und duraki, im Jahr 2002 exakt 184.000 Unfälle mit 32.200 Verkehrstoten und 215.000 Verletzten. Der Sachschaden von einer weiteren Million Unfälle betrug etwa sechs Milliarden Euro. Während in Europa auf 100 Unfälle drei bis fünf Tote kommen, lassen auf den russischen Straßen statistisch gesehen 14 Menschen ihr Leben.

Ab jetzt: Haftpflichtversicherung!

In Russland hat unterdessen - man sollte es nicht glauben - eine kleine Kulturrevolution stattgefunden, die zwar nicht das Risiko an Leib, Leben und Lada-Blech verringern wird, zumindest aber eingetretene Schäden regulieren helfen soll: Seit Beginn des Jahres 2004 gilt in Russland die obligatorische Haftpflichtversicherung. Damit wird nun das Risiko geringer, für Unfallschäden durch Fremdverschulden überhaupt nicht entschädigt zu werden. Noch bis vor kurzem galt bei einem Unfall wie auch im Straßenverkehr grundsätzlich das Recht des Stärkeren. Einen Schaden durch die Gerichte einzuklagen, war für den Einzelnen in etwa so erfolgversprechend, wie mit einem Lada-Niva ein Formel-1-Rennen zu gewinnen. Im besten Fall einigten sich die Unfallgegner unter der Hand.

Symbolische Leistungen im Versicherungsfall

Mit der neu in Kraft getretenen Regelung obliegt es nun den Versicherungen, die Schuldfrage untereinander oder vor Gericht zu klären. Allerdings setzt die neue Autohaftpflicht den maximalen Schadenersatzforderungen enge Grenzen: Für Sachschäden werden bei einer Jahresprämie von umgerechnet rund 60 Euro maximal 5000 Euro ausbezahlt, für Schaden an Körper und Gesundheit oder gar Unfall mit Todesfolge zahlt die Versicherung des Unfallschuldners im Höchstfall umgerechnet 7500 Euro - ein Indiz dafür, wie wenig dem Gesetzgeber ein Menschenleben wert ist. Zwar kann inzwischen jeder freiwillig eine private Versicherung mit höheren Prämien abschließen, doch der breiten Mehrheit in Russland ist der Gedanke an die private Risikoabsicherung völlig fremd.

Jedem das Seine

Die Profiteure der neuen Auto-Haftpflicht sind neben den Versicherungsgesellschaften in erster Linie korrupte Verkehrspolizisten, die in diesen Tagen verschärft russische Autofahrer kontrollieren und denen, die noch keine Versicherungspolice vorweisen können, empfindliche Bußen auferlegen, von denen der Großteil natürlich in der eigenen Tasche landet. Noch mehr Gewinn machen zurzeit die Schwindler und Fälscher, die beinahe an jeder Moskauer Straßenecke gefälschte Versicherungspolicen zum Schnäppchenpreis von 100 Rubeln, gerade mal drei Euro, anbieten.

Dass viele Russen das Prinzip der privaten Risikoabsicherung nicht verstanden haben, zeigt die Äußerung eines Taxifahrers, der meinte, die obligatorische Haftpflicht sei nichts anderes, als alle Autofahrer kollektiv zu Verkehrssündern abzustempeln. Der Fahrer frotzelte: So wie sich jeder mit einer jährlichen Gebühr gegen hohe Kosten bei einem Verkehrsunfall schützen könne, könne man sich sicher bald auch gegen eine Gefängnisstrafe versichern, indem man prophylaktisch vier Tage pro Jahr ins Gefängnis gehe.