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Kampf um jede Stimme

Christoph Ricking, z. Zt. London22. Juni 2016

Brexit oder nicht? Die Londoner Vorstadt Romford ist eine Hochburg der EU-Gegner. Bis zum Schluss versuchen Brexit-Gegner, die Bürger umzustimmen. Christoph Ricking hat den letzten Wahlkampf-Tag beobachtet.

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Mitglieder der Remain-Kampagne stehen hinter einem Stand mit Infomaterial (Foto: DW/C. Ricking)
Bild: DW/C. Ricking

Wäre der Wahlkampf um das EU-Referendum ein Fußballspiel, hätten Mick Hitchin und sein Team ein Auswärtsspiel. Hitchin und sein Team tragen blaue T-Shirts mit dem Aufdruck "I'm in". Sie haben einen kleinen Stand mit Infomaterial aufgebaut. "Remain" (Bleiben), der Slogan der EU-Befürworter, steht auf den Flyern, Ansteckern und Aufklebern, die sie an die Passanten verteilen.

Hitchin und seine Mitstreiter stehen auf dem Markt in Romford und kämpfen für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Die Stadt im Nordosten Londons gilt als Hochburg der EU-Gegner. Das zeigt schon ein Blick auf den Markt: Viele Händler haben Schilder mit dem Slogan "Vote Leave" (Wählt den Austritt), dem Motto der EU-Gegner, an ihren Ständen aufgehängt.

Sorge vor Einwanderung

"Das hier ist der Europa-skeptischste Ort des Landes", sagt Hitchin. "Als wir hier vor drei Monaten zum ersten Mal Wahlkampf gemacht haben, hatten wir ziemliche Beklemmungen", gibt er zu, um dann hinzuzufügen: "Aber ich muss sagen, es läuft super. Wir hatten guten Zuspruch in den letzten Monaten. Die Menschen sind offen, wenn sie die Fakten und Argumente hören."

Marktstand in Romford mit "Vote Leave"-Schild (Foto: DW/C. Ricking)
Viele Verkäufer in Romford wollen den Brexit: Sie haben "Vote Leave"-Schilder an ihren Ständen aufgehängtBild: DW/C. Ricking

Doch am Tag vor dem Referendum läuft es nicht so gut für die Wahlkämpfer der Remain-Kampagne. Ein älterer Herr regt sich furchtbar darüber auf, dass zu viele Migranten nach Großbritannien kämen. Mick Hitchin bleibt ruhig, versucht freundlich mit ihm zu reden, doch der Mann wird immer emotionaler und geht wütend davon.

Zu viel Einwanderung sei die größte Sorge der EU-Gegner, sagt Hitchin: "Das mag ja eine berechtigte Sorge sein, aber ich denke, wir lösen solche Probleme besser, wenn wir vereint sind und kooperieren."

Schwer zu überzeugen

Craig Rimmer ist ebenfalls Freiwilliger der Remain-Kampagne und versucht, eine Gruppe älterer Damen von einem Verbleib Großbritanniens in der EU zu überzeugen. Ein Dialog entspinnt sich:

"Bei einem EU-Austritt könnte das Rentenalter auf 69 Jahre ansteigen", erklärt Rimmer.

"Das ist mir egal, ich bin schon in Rente", sagt eine der Frauen.

"Ich aber nicht", entgegnet Rimmer. "Und was ist mit Ihren Kindern und Enkelkindern?"

"Die leben in Australien, einem anständigen Land", erwidert die Frau.

"Australien ist ein Einwanderungsland", sagt Rimmer.

"Die haben ja auch Platz, hier wird es immer voller", sagt die Frau.

"Es ist vielleicht geografisch größer, aber da gibt es auch viel Wüste", sagt Rimmer.

Schließlich brechen alle in Gelächter aus. Rimmer versucht, der Gruppe eine "Remain"-Tasche zu überreichen, doch alle lehnen ab. Immerhin wird er ein paar Flyer los. "God bless you", sagt die Frau lachend und wendet sich an die Umstehenden: "Er hat es versucht. Er hat seine Sache gut gemacht. Aber er hat mich nicht überzeugt. Ich glaube ihm kein Wort."

Optimismus bei den EU-Gegnern

Nur wenige Meter entfernt hat die Vote Leave-Kampagne ihre Banner an einer Baustelle aufgehängt. Für sie ist dieser Wahlkampftermin ein Heimspiel. "Wie sie sehen, verteilen wir weit mehr Flugblätter als die Remain-Kampagne", sagt Gerald Batten. Er sitzt für die Anti-EU-Partei UKIP im EU-Parlament und schaut optimistisch auf das Referendum.

"In Romford werden wir ganz sicher sehr hoch gewinnen", sagt er: "Ein sehr hoher Prozentsatz wird für einen Brexit stimmen. Und ich glaube auch, dass wir landesweit mit einem beträchtlichen Vorsprung gewinnen. Die Leute haben genug, sie wollen raus." Die jüngsten Umfragen bestätigen Battens Einschätzung jedoch nicht: Sie sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.

Wahlkämpfer der Vote Leave-Kampagne in der Fußgängerzone (Foto: DW/C.Ricking)
Gerard Batten (vorne li.) von der UKIP ist sich sicher: Der Brexit kommtBild: DW/C. Ricking

In Romford muss das Team um Batten kaum Überzeugungsarbeit leisten. Es scheint eher so, dass sich Wahlkämpfer und Bürger in ihrer Meinung bestätigen. Eine Frau klopft Batten auf die Schulter und ruft laut "United we stand". Es ist klar, dass sie nicht die EU damit meint.

Lügen-Vorwürfe von beiden Seiten

Beide Lager stehen nur wenige Meter voneinander entfernt. Auf den ersten Blick ist man freundlich zueinander. Diskussionen gibt es nicht. Dennoch kritisiert Batten die "Remain"-Kampagne: "Die sprechen die Angst der Bürger an. Es könnte irgendein Spuk passieren, es könnte ein Desaster geben, wenn wir austreten. Das sind alles Lügen."

Auch die EU-Befürworter werfen den Brexit-Anhängern vor, Lügen zu verbreiten. "Das ist teilweise lächerlich", sagt Peter Stremes von der Remain-Kampagne, während er Flugblätter verteilt. "Boris Johnson hat beispielsweise gesagt, die EU würde uns verbieten, mehr als drei Bananen am Stück zu kaufen." Das sei aber noch harmlos.

"Es gibt viele Horrorgeschichten über massenhafte Einwanderung. Es wird versprochen, wirtschaftlich würde alles besser laufen bei einem Austritt." Sein Mitstreiter Rimmer fügt hinzu: "Die Vote Leave-Seite behauptet, dass die Türkei bald der EU beitritt und dass dann mehrere Millionen Einwanderer auf einen Schlag ins Land kommen."

Unterdessen spricht Mick Hitchin mit einer jungen Frau. Sie ist noch unentschlossen, ob sie für oder gegen den Brexit stimmen wird. "Er hat einiges gesagt, was mich durchaus überzeugt", sagt sie. "Ich muss jetzt noch ein paar Besorgungen machen. Dann höre ich mir die andere Seite an. Und dann entscheide ich."

Für Mick Hitchin war das ein gutes Gespräch. Noch immer sind rund zehn Prozent der Briten unentschlossen. Möglicherweise hat er eine der Unentschlossenen überzeugt.