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Die Bedeutung der Zivilgesellschaft

Bejamin Barber/ AD18. Juni 2013

Demokratische Wurzeln in der Zivilgesellschaft sind die Grundvoraussetzung für Revolutionen. Ohne sie stehen Bürgerrechte und zivile Reformen auf schwachen Füßen, argumentiert Bejamin Barber.

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Benjamin R. Barber Copyright: Dr. Benjamin Barber
Bild: privat

Die Sehnsucht nach Freiheit stachelt zum Aufstand an: Sie stößt früher oder später Autokraten vom Thron und treibt das Streben nach Demokratie voran. Wenn ein Aufruhr erst einmal losgebrochen ist, ist es allerdings zu spät, über die Wirksamkeit einer Revolution als Wegbereiter der Demokratie zu argumentieren.

Die Wege zur Demokratie verlaufen historisch unterschiedlich, und es ist nicht klar, ob ein bewaffneter Aufstand - auch wenn dabei ein Tyrann abgesetzt wird - zwangsläufig zur Demokratie führt. Ganz im Gegenteil waren revolutionäre Aufstände, ob in Paris 1789, Moskau 1917 oder Teheran 1979, zwar erfolgreich bei der Absetzung von Tyrannen; eine Demokratie haben sie aber trotzdem nicht etabliert. Das Endergebnis heißt allzu oft Instabilität, Anarchie, Bürgerkrieg oder wieder Tyrannei im neuen Gewand.

Bringen Revolutionen die Anarchie?

Revolutionen streben Ziele an, die idealerweise bereits vorhanden waren, bevor die Revolution begann. Vielen der radikalen Veränderungen in der arabischen und nordafrikanischen Welt während der letzten Jahre ging die revolutionäre "Enthauptung" eines autokratischen Regimes voraus (zum Beispiel in Libyen und Ägypten).

Der Sturz von Diktatoren führte nicht automatisch zu einer freieren Regierungsform oder zu einer fähigeren Zivilgesellschaft – von kompetenten Bürgern oder Rechtsstaaten mal ganz zu schweigen. Ganz im Gegenteil kamen die Folgen der Revolutionen – egal wie gut gemeint sie auch gewesen sein mögen - der Anarchie eher zugute als der Rechtsstaatlichkeit. Das hat verdeutlicht, wie wenig rechtsstaatliche Kapazität in diesen Übergangsgesellschaften außerhalb der formalen Regierung existiert.

Kein Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit

In Libyen hatte die Ermordung eines langjährigen Diktators, der sein Land langsam aus dem Kreis der Schurkenstaaten in die westliche Welt führte und dabei sehr bescheidene Fortschritte in Bezug auf die Zivilgesellschaft und die Menschenrechte erzielte, problematische Folgen. Allen Versuchen auf dem Papier zum Trotz, eine Regierung der nationalen Einheit zu schmieden, sieht die Wirklichkeit dort anders aus: Es etablierte sich eine dezentralisierte Herrschaft von Stämmen und Militär; zwischen dem Osten und dem Westen herrscht seitdem ein schwelender Bürgerkrieg.

Ein weiteres Anzeichen für Libyens derzeitigen, traurigen Zustand ist die Unfähigkeit der Regierung in Tripolis, die "Zintan Militia", die den Sohn des Diktators, Saif Gadaffi, gefangen hält, dazu zu bewegen, ihn an die Zentralregierung oder den Internationalen Gerichtshof auszuliefern. Ein weiteres Indiz sind die fortdauernden Angriffe auf Sufi-Moscheen, die von der Polizei nicht verfolgt und von den Gerichtshöfen nicht verurteilt werden. Ebenfalls zu beklagen ist die Bewegungsfreiheit von nordafrikanischen Al Qaida-Kräften, die nach dem Sturz von Muammar Gaddafi aus den Gefängnissen befreit worden waren.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn es keine verantwortlichen Bürger und keine verwurzelte Zivilgesellschaft gibt, dann ist es fast unmöglich, eine stabile Regierung und Respekt für die Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln. Der Tod von Gaddafi hat zwar die schlimmste Unterdrückung beendet; trotzdem herrscht jetzt mehr Anarchie als Stabilität. Auf Dauer werden sich die Dinge beruhigen, und die verantwortlichen Kräfte im Land werden einigen Fortschritt erreichen. Aber mit der Zeit hätten die internen Reformkräfte durchaus das Gleiche erreichen können – und zwar ohne die horrenden Kosten, die der Sturz Gaddafis nach sich zog. Wenn auch ohne das überwältigende Gefühl der Befreiung, das dieser den Libyern verschaffte.

Revolutionärer Wandel in der Kritik

Die Geschichte in Ägypten verlief ähnlich. Mubarak ist zwar weg, aber das Land steckt immer noch im Würgegriff zwischen politischem Islam und Militär. Die jungen säkulären Liberalen, die auf dem Tahrir Platz demonstrierten und die Diktatur zum Einsturz brachten, fühlen sich in den jetzigen Machtkämpfen übergangen. Frauen werden immer noch marginalisiert, die Menschenrechte werden regelmäßig missachtet, politische und religiöse Trennlinien erschweren den Aufbau einer nationalen Einheit.

Es geht hier nicht darum, dass die Revolution nicht hätte stattfinden sollen. Dennoch bleibt wahr, dass revolutionärer Wandel nicht unbedingt der beste Weg ist, um eine gesunde Zivilgesellschaft und eine engagierte Bürgerschaft zu schaffen. 

Niemand kann in Ländern, wo derzeit ein gewaltsamer Wandel stattfindet – wie zum Beispiel in Syrien – eindeutig voraussagen, wer wirklich vom Sturz des alawitischen Regimes unter Präsident Baschar al-Assad profitieren wird. Die Zivilgesellschaft? Oder eine neue schiitische Diktatur? Oder Al Qaida? Die islamischen Fundamentalisten? Oder der säkuläre Liberalismus? Wird es ein wirklich vereintes Syrien geben oder ein langsam in den Bürgerkrieg abdriftendes Land? Wird dort mehr oder weniger Pluralismus herrschen? Wird das Gesetz missachtet werden oder nicht? 

Die Wahrheit ist, dass die Wut der Menschen, die seit Generationen von Autokratie und Unterdrückung beherrscht werden, oft länger währt als graduelle Reformen. König George III. und seine Regierung hätten die amerikanische Revolution umgehen können, wenn sie schneller auf amerikanische Klagen über Unterdrückung reagiert hätten. Denn sogar die amerikanische Revolution brachte nicht nur Freiheit, sondern 80 Jahre einer Sklavenrepublik und einen blutigen Bürgerkrieg. Eine freie zivile Republik kam erst fast ein Jahrhundert nach dem Aufstand zustande; sie schloss die "Bürgerschaft aller Männer" mit ein (ohne die Frauen).

Zivilgesellschaft als Schlüssel zum Erfolg

Wenn man einen Blick auf die osteuropäischen Nationen wirft, die nach dem Zusammenfall der Sowjetunion aufstrebten, scheinen diejenigen die erfolgreichsten zu sein (Polen, Ungarn und die Tschechische Republik), die bereits aus einer früheren Epoche eine fähige Bürgerschaft mitbrachten oder zivilen Widerstand bereits kannten - wie zum Beispiel in Polen durch die Solidaritätsbewegung und die Katholische Kirche.

Daraus könnte man schließen, dass zivile Reformen und eine bürgerliche Gesellschaft, die bereits vor den radikalen Veränderungen existierten, der Schlüssel zum Erfolg sind. Paradoxerweise scheint ein gewisser Grad ziviler Fähigkeiten notwendig zu sein, um die Autokratie erfolgreich abzuschütteln und eine Regierung zu schaffen, die zivile Fähigkeiten stärkt und unterstützt. Also benötigt man bereits vor den politischen Veränderungen genau jene zivilen Ressourcen, die durch die politischen Veränderungen geschaffen werden sollen.

Die unglückselige Rolle der Medien

Einen Autokraten loszuwerden und eine politische Elite abzuschütteln, soll zivile Veränderungen bewirken. Aber wenn es diesen zivilen Wandel bereits gab, dann wären ein gewaltsamer Umsturz und seine hohen Kosten vielleicht vermeidbar gewesen. Die Medien haben oft eine sehr unglückselige Rolle gespielt, indem sie gewaltsame Rebellionen anfeuerten. Für deren Konsequenzen mussten sie jedoch keinerlei Verantwortung übernehmen. Massenmedien lieben das Spektakel und himmeln die verklärten Gesichter blutverschmierter Rebellen an. Aber genau diese Medien sind nicht mehr da, wenn die Revolution schief gegangen ist, eine Gegenrevolution losbricht oder sich das pure Chaos ausbreitet.

Der Westen und die Medien sollten in einer so eng miteinander verbundenen Welt, in der die Konsequenzen ziviler Anarchie und politischer Instabilität Grenzen überschreiten und sehr kostspielig werden können, bei der Anstachelung zu Aufständen vielleicht ein bisschen vorsichtiger sein. Denn deren Folgen sind völlig unsicher, und der Westen muss die Kosten nicht tragen.

Ein demokratisches Pferd vor dem revolutionären Karren

Es ist schwer zu sagen, welche Lehren wir aus der Geschichte oder dem größeren historischen Kontext politischer Revolutionen ziehen sollten. Die Geschichte schafft Tatsachen. Revolutionen kann man nicht mehr rückgängig machen, egal, was ihre Konsequenzen auch sein mögen. Außerdem beenden sie die schreckliche Unterdrückung und verschaffen einem geschundenen Volk ein Gefühl von Freiheit und Würde und einen Neuanfang. Man wird Fehler machen, aber es sind die eigenen und nicht die der Tyrannen.

Die erfolgreichsten und produktivsten Revolutionen allerdings haben in Gesellschaften stattgefunden, in denen es bereits Demokratieansätze und eine Zivilgesellschaft gab; dort also, wo die Rebellen keine Untertanen mehr, sondern bereits Bürger waren. Das sollte als Argument dafür gelten, dass man ein demokratisches Pferd vor den revolutionären Karren spannen sollte, bevor man eine problematische Revolution anstachelt –  um wahren zivilen Wandel durchzusetzen. 

Benjamin R. Barber ist ein Senior Research Scholar am Center on Philanthropy and Civil Society des Graduate Center der City University of New York und Gründer des Interdependence Movement. Er war Berater der Regierung von US-Präsident Bill Clinton und hat zahlreiche Bestseller geschrieben, u.a. "Jihad versus McWorld".