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Vor und zurück

Bahaeddin Güngör2. November 2002

Europa ist aus der Sicht der Türkei weit weg und doch direkt vor der Haustür. Welche der Parteien auch immer die Parlamentswahl gewinnen werden - die Politiker müssen sich der europäischen Herausforderung stellen.

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Am anderen Ufer des Bosporus liegt EuropaBild: AP

Ein auf 2000 US-Dollar geschrumpftes durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen, ein Arbeitslosenheer von schätzungsweise zehn Millionen Menschen und rund 30 Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben - rein wirtschaftlich ist die Türkei noch weit von den EU-Normen entfernt. Dennoch sind aber im politischen Bereich die Weichen auf Europakurs gestellt worden - wenn auch erst ansatzweise und mit viel Mühe. Die Todesstrafe ist abgeschafft, kurdischer Unterricht in Privatschulen sowie kurdische TV- und Rundfunksendungen sind erlaubt worden. Trotz fortbestehender Defizite wurde das Reformprogramm immerhin so ernsthaft umgesetzt, dass sich Brüssel merklich unter Zugzwang fühlt.

Europagegner ...

Die Gegner der EU befinden sich hauptsächlich in den Reihen der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) von Devlet Bahceli. Bahceli hatte die bisher regierende Drei-Parteien-Koalition zusammenbrechen lassen, weil die Regierung mit Blick auf die EU das Todesurteil gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan aufhob. Nationalist Bahceli ist prinzipiell gegen Zugeständnisse jeglicher Art. "Solange die EU die Türkei wie ein Stiefkind behandelt, solange sollte man von der Union auch nichts anderes als die üblichen leeren Worte erwarten", erklärt er.

Bahcelis Rechnung könnte jedoch falsch sein. Nach den letzten Meinungsumfragen liegt die Quote der Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei bei rund 75 Prozent. So ist es auch keine Überraschung, dass seiner Partei MHP kein sicherer Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde vorausgesagt wird. Auch die ebenfalls europakritische und oft als "MHP light" bezeichnete "Junge Partei" des Medienmoguls Uzan dürfte an der Klausel scheitern.

... und Befürworter

Ein sicherer Einzug ins Parlament wird nur der reform-islamistischen AKP und der sozialdemokratischen CHP vorausgesagt. Baykals CHP, vor acht Jahrzehnten vom Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen, verlässt sich auf die Glaubwürdigkeit ihres Zugpferds Kemal Dervis.

Dervis hatte der Türkei als einstiger Wirtschaftsminister wieder zur Kreditwürdigkeit verholfen und mit einem ehrgeizigen Sanierungs- und Aufbauprogramm dem IWF Milliardenbeträge entlockt. Derweil bemüht sich der Wahlfavorit AKP um Salonfähigkeit in Europa. Die Partei will nicht mit Fundamentalisten verglichen werden, sondern bekennt sich zur EU. Ihr Vize Abdullah Gül wird voraussichtlich der nächste Ministerpräsident der Türkei.

Gül versprach in Brüssel bereits, wenn seine Reform-Islamisten an die Macht kämen, werde es nicht einmal ein Alkoholverbot geben. "Es wird überhaupt keine Verbote geben. Wir sind keine islamische Partei, die die Grundordnung der Türkei verändern will. Vergleicht uns mit den christdemokratischen Parteien in Europa", fordert Gül.

Ähnlich wie die Mutterlandspartei (Anap) von Mesut Yilmaz heißt es auch von Seiten der AKP: Wenn in zwei Monaten auf dem EU-Gipfel kein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt werde, dann werde die Enttäuschung des türkischen Volkes sehr groß sein und die Anhänger einer türkischen EU-Mitgliedschaft empfindlich schwächen.