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Vorboten der Vernunft

Baha Güngör7. September 2004

Mit den jüngsten demokratischen Reformen hat die Türkei laut EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen eine "kritische Schwelle" für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen gemeistert. Baha Güngör kommentiert.

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In weniger als einem Monat wird die EU-Kommission ihren Fortschrittsbericht über die Türkei vorlegen. Dieser wird die Grundlage für die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitglieder darüber sein, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden sollen. Für einen positiven Beschluss sind also noch Hürden zu meistern, und man kann nur hoffen, dass Vernunft hierbei die Oberhand behält: Ankara hat die Mehrzahl der Bedingungen erfüllt und verdient eine faire Chance.

Auch wenn der Erweiterungskommissar Günter Verheugen, die deutsche Bundesregierung und jetzt auch noch ein paar zwar nicht mehr aktive, aber weise EU-Politiker als Vorboten der Vernunft auftreten und Ankara grünes Licht signalisieren: Die Front der Gegner von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei lässt nicht locker. Und wiederholt ihre altbekannten, meist sachfremden Argumente.

Fakt ist, dass einzig die Kopenhagener Kriterien die Messlatte bilden, die die Türkei überspringen muss, um irgendwann EU-Mitglied werden zu können. Es sind Kriterien, die Demokratie und Menschenrechte, Minderheitenschutz und wirtschaftliche Entwicklung fordern - genauso, wie dies zuvor von den mittel- und osteuropäischen Neu-Mitgliedern verlangt wurde. Weitere Bedingungen gibt es nicht - sie werden höchstens hinzu erfunden: Die Gegner eines späteren türkischen EU-Beitritts lassen immer wieder erkennen, dass sie Ankaras Begehren auch deshalb ablehnen, weil die Bevölkerung der laizistischen Türkei islamisch geprägt ist.

Ist die Türkei schon reif für den Beitritt? Nein, noch lange nicht! Ob es um Menschenrechte, Demokratie, Minderheitenschutz oder wirtschaftliche Grunddaten geht: Die europäischen Normen sind noch längst nicht erfüllt. Aber Ankara bekennt sich seit Jahrzehnten zu den europäischen Werten und bemüht sich trotz vieler Rückschläge und innerer Feinde um deren Verankerung - mit immer größerem Erfolg. Das Land verdient deshalb eine faire Chance - auch wenn der tatsächliche Beitritt noch lange auf sich warten lassen dürfte.

Was eigentlich spricht dagegen, dass sich die Türkei als NATO-Land und Gründungsmitglied des Europarates um Integration in Europa bemüht? Und was spricht gegen die Unterstützung dieser Bemühungen eines Landes, das den Generalsekretär der Islamischen Konferenz-Organisation stellt und somit die viel zitierten Erwartungen bezüglich einer Brückenfunktion zwischen Orient und Okzident sogar schon vor dem angestrebten EU-Beitritt erfüllt?

Heute ist der Feind der europäischen Zivilisation nicht mehr in Form eines Landes oder Bündnisses lokalisierbar, um sie ins Visier von Abschreckungswaffen zu nehmen und sich beruhigt zurückzulehnen. Feinde zeitgenössischer Werte - das sind heute vor allem Terroristen, die nicht selten unter dem Deckmantel der Religion in einem islamisch geprägten Kontext operieren. Auch die Türkei ist islamisch geprägt. Aber sie hat eine laizistische Verfassung und fühlt sich der Demokratie und europäischen Werten verpflichtet. Ihre weitere Heranführung an die EU ist nichts, wovor Europäer sich fürchten müssten - sondern die geostrategische Herausforderung eines kulturellen Brückenschlags, den es möglichst gut zu meistern gilt.