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Vorführreise gegen das Vergessen

26. Oktober 2009

Der ZDF-Dokumentarfilm “Auf Halbem Weg zum Himmel” erzählt von einer Maya-Gemeinde in Guatemala und ihrem Kampf um Gerechtigkeit. Eine Vorführreise der Dokumentarfilmer sorgt im Land für Kontroversen.

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Konfrontation von Demonstranten und Sicherheitskräften in Guatemala Stadt 2007 (Foto: Andreas Boueke/DW)
Bis heute ist Guatemalas Armee eine der mächtigsten Institutionen der GesellschaftBild: Andreas Boueke

Vier Überlebende des letzten Massakers des guatemaltekischen Bürgerkriegs begleiten die beiden deutschen Filmemacher Andrea Lammers und Ulrich Miller. Sie alle haben an der Dokumentation „Auf Halbem Weg zum Himmel“ mitgearbeitet, ein Film die blutigen Ereignisse in der Gemeinde Xamán am 5. Oktober 1995. Die Delegation steht vor der Sicherheitspforte der Deutschen Schule in Guatemala-Stadt. Um das Schulgelände betreten zu können, müssen sie erst einen kleinen Raum betreten, in dem zwei Uniformierte ihre Personalausweise und Pässe kontrollieren. “Ich empfinde das als sehr unangenehm", sagt die Dokumentarfilmerin Andrea Lammers. "Für die Kameraden aus dem Dorf ist diese Rundreise auch eine Reise des Schmerzes und der Angst.”

(Foto: Andreas Boueke/DW)
Filmvorführung an der Deutschen Schule in GuatemalaBild: DW / Andreas Boueke

Endlich gibt der Chef des Sicherheispersonals die Erlaubnis, der Gruppe die Metalltür zu öffnen. Der Blick wird frei auf einen großen Parkplatz, umringt von Bäumen, einem dreistöckigen Verwaltungsbereich, gut ausgestattete Unterrichtsräume, mehrere Sportplätze, ein Schwimmbad. Efraín Grave staunt. Er ist in einem Flüchtlingslager in Mexiko aufgewachsen. Als Jugendlicher wurde er während des Massakers von Xamán schwer verletzt. “Ich hatte gedacht, die deutsche Schule sei so ähnlich wie die Schule in unserem Dorf, aus Holz und mit einem Wellblechdach. Ich hatte keine Ahnung, dass in Guatemala Schulen existieren, die so viel Platz haben.”

Das Massaker von Xamán

Die Aula füllt sich bis auf den letzten Platz, 120 Schülerinnen und zehn Lehrer sind zur Filmvorführung gekommen. Sie sehen eine Dokumentation über eine Gemeinde von Kriegsflüchtlingen, die 1994 aus dem Exil in Mexiko zurückgekehrten. Die guatemaltekische Regierung hatte ihre Sicherheit garantiert. Sie wollten in Frieden leben, Mais, Gemüse und Kaffee anbauen.

(Foto: Andreas Boueke/DW)
Schulunterricht im Hochland von, Guatemala. Hier leben vorwiegend MayasBild: Andreas Boueke

Im Oktober 1995 stand man in Xamán kurz davor, das erste Jubiläums ihrer Rückkehr nach Guatemala zu feiern. Da tauchte plötzlich ein Militärtrupp mitten auf dem Dorfplatz auf. Die Bewohner reagierten mit Beschimpfungen. Die Soldaten antworteten mit Bleikugeln. Elf Menschen starben, alles Zivilisten, zwei von ihnen Kinder. Dreißig Personen wurden verletzt, einige schwer.

Die deutsche Doku-Filmerin Andrea Lammers arbeitete damals als Menschenrechtsbeobachterin in der Hauptstadt: “Die verletzten Überlebenden wurden mit Hubschraubern in ein Krankenhaus gebracht”, erinnert sie sich. “Wir wurden gerufen, um die Patienten zu begleiten, damit niemand sie bedroht oder entführt. Sowas passiert hier häufig mit Zeugen von Verbrechen.”

Die Armee vor Gericht

In den darauffolgenden Monaten entschloss sich die Gemeinde, ein Gerichtsverfahren gegen die Armee einzuleiten. Der Fall zog die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf sich. Denn zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mussten sich Armeeangehörige vor einem Zivilgericht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Außergerichtliche Hinrichtungen, lautete die Anklage. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden die Soldaten zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Eine kleine Sensation in der guatemaltekischen Justizgeschichte.


Eines der Todesopfer des Massakers war der Ehemann von Manuela Toma. Für sie ist es schwer, die Ereignisse jetzt nochmal auf einer Leinwand zu sehen: "Der Film zeigt die Beweise. So ist es gewesen. Der Film zeigt die Wahrheit.”

Nach der Vorführung in der Deutschen Schule sind die meisten Schüler beeindruckt. “Ich habe fast nichts von all dem gewußt,” sagt Polet Samayoa aus dem Abitursjahrgang. “Es war schockierend von all diesen Dingen zu hören, die in Guatemala passiert sind.”

"Wir wussten nichts von all dem."

Bevor die Regierung und Vertreter der linksgerichteten Guerilla 1996 einen Friedensvertrag unterschrieben haben, wurden während des 36 Jahre lang andauernden Bürgerkriegs in Guatemala über 200.000 Menschen ermordet, rund 400 Dörfer von Soldaten der Armee zerstört und viele ihrer Bewohner massakriert. Doch die junge Generation der Oberschicht Guatemalas weiß davon so gut wie nichts, meint der Schüler Mario Arturo Figueroa: “Von den Massakern haben wir noch nie gehört. Ich halte es für sehr wichtig, dass solche Filme in den Schulen gezeigt werden. Wir sind die Zukunft dieses Landes und wir sollten unsere Geschichte kennen.”

Nach der Filmvorführung kommt es zur Diskussion zwischen den Schülerinnen, den vier Gemeindemitgliedern und den deutschen Produzenten. Der Filmemacher Ulrich Miller ist zufrieden: “Ich hatte den Eindruck, dass die Schüler der Deutschen Schule in einer völlig anderen Welt leben.” Der Schüler Edward Peters gibt zu, dass er sich bisher nicht besonders für die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung interessiert hat.

(Foto: Andreas Boueke/DW)
Über zweihunderttausend Menschen wurden im Bürgerkrieg ermordet. Die meisten der Opfer waren MayaBild: DW / Lammers

Die Mayas machen rund die Hälfte der Einwohner Guatemalas aus. Doch Schüler wie Edward Peters haben so gut wie keinen Kontakt zu Angehörigen der indigenen Bevölkerung Guatemalas – mal abgesehen von den jungen Mädchen, die ihnen als Hausangestellte das Zimmer putzen und das Essen kochen. “Normalerweise haben wir nicht die Möglichkeit, uns mit ihnen zu unterhalten. Schon gar nicht über ein solch sensibles Thema. Der Bürgerkrieg ist ein Thema, über dass hier sonst nie direkt gesprochen wird.”

Getrennte Welten: Mestizen und Mayas in Guatemala

Edward Peters ist etwa so alt wie es der Sohn von Natividad Sales war, als im Kugelhagel der Armee starb. Die trauernde Mutter ist froh, dass sie ihren Teil zu der Entstehung des Films hat beitragen können: “Die internationale Gemeinschaft hat uns unterstützt. Es war ein schmerzhafter Kampf, aber wir mussten ihn kämpfen, um unsere Toten zu ehren.”

Regiesseurin Andrea Lammers, freut sich über die Ergebnisse ihres Besuchs: “Ich glaube, dass war nicht nur sinnvoll für die Schüler, sondern auch für die Kameraden aus der Gemeinde. Sie haben erlebt, dass sie auch in sozialen Kreisen, zu denen sie sonst nie Zugang haben, mit offenen Armen und Zeichen der Solidarität empfangen werden können.”

“Die Opfer haben ihre Stimme gefunden.”

Einiges hat sich in Guatemala geändert, hat Andrea Lammers auf ihrer Vorführreise durch das Land festgestellt. Aber es gibt auch viele Widersprüche. “Das soziale Klima hat sich umgedreht”, sagt die Filmemacherin. “Die Opfer haben ihre Stimme gefunden, gleichzeitig aber sind die Verantwortlichen für die Massaker noch immer frei. Sie werden nicht bestraft. Es gibt ein paar Haftbefehle, die aber nicht umgesetzt werden. Dieselben Machtstrukturen funktionieren noch immer, dieselbe Straffreiheit.”

Autor: Andreas Boueke

Redaktion: Sven Töniges