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Vorhang auf, die Mauer ist weg!

9. November 2009

Europäische Dramatiker schreiben über die Folgen des Mauerfalls: Bei einem Theaterprojekt des Goethe-Instituts ist ein teilweise erschreckendes Bild Europas entstanden. Ein Festival in Dresden und Mülheim/Ruhr.

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Ein Mann und eine Frau stehen auf einer Bühne, im Hintergrund große Augen als Video-Projektion. Szenenausschnitt aus 'Antidot' von Nicoleta Esinencu (© Florin Tabirta)
Keine Euphorie: Theater nach dem MauerfallBild: Florin Tabirta

Das ist alles so schnell gegangen! Früher, da gab es noch Ordnung, jetzt haben sie sogar die Schlagbäume abgeschafft. 35 Jahre lang hat Edek zwischen Polen und der damaligen CSSR Wache gehalten. Jetzt hängt er nur noch rum, im Niemandsland mitten im Wald, genauso überflüssig geworden wie der rot-weiße Schlagbaum. Nicht mal mehr die CSSR gibt es noch. "Drüben", das ist jetzt das EU-Mitglied Slowakei, und das Schengener Abkommen über den Wegfall der Personenkontrollen hat all die liebgewonnenen Einrichtungen überflüssig gemacht, die neben den Landesgrenzen auch die eigene Identität sicherten.

Ein Mann und eine Frau, beide schwarz bekleidet, sie befawwnet, neben einem geöffneten rot-weißen Schlagbaum (© Zbigniew Bielawka)
Nur noch ein Relikt aus alten Zeiten: Der Schlagbaum in Stasiuks Stück 'Warten auf den Türken'Bild: Zbigniew Bielawka

Kann man Grenzen nicht auch wieder aufbauen, fragt sich Edek, und das fragen sich auch die anderen Gestrandeten der neuen Zeit – drei ehemalige Schmuggler, die früher vom ganz kleinen Grenzverkehr profitierten, und die Hure Marika, die "drüben" einen Wodka- und Bierstand betreibt: Wo steht denn geschrieben, dass Veränderungen immer zum Besseren führen? Und wenn man einfach keine Veränderungen haben will - ist das verboten? Über so wehmütige Fragen ist längst die Zeit hinweggefegt, das Niemandsland ist privatisiert. Und ausgerechnet ein türkischer Investor – Achtung: schnauzbärtige Muselmanen! – will hier einen Themenpark "Grenze im alten Osteuropa" aufziehen. Mit Stacheldraht, Hunden und Schießereien. "Warten auf den Türken" heißt das Stück des polnischen Dramatikers Andrzej Stasiuk, das zum Festival "After the Fall" eingeladen war – eine so melancholische wie ironische Farce auf die Zeitenwende, wunderbar komödiantisch in Szene gesetzt vom Stary Teatr Krakau.

Panzer in der Ödnis

Siebzehn Autoren aus fünfzehn Ländern hatte das Goethe-Institut gebeten, Stücke über die Folgen des Mauerfalls zu schreiben, sieben wurden nun zur Aufführung in Deutschland ausgewählt. So bekannt wie Stasiuk sind hierzulande die wenigsten der Beteiligten. Zu den Newcomern zählt auch der junge Ostdeutsche Dirk Laucke, der ein erstaunlich ähnliches Personal ins Rennen schickt wie Stasiuk: Gescheiterte des Mauerfalls, die in der Ödnis nahe der tschechischen Grenze alten Zeiten nachhängen. Ein Schmugglerpärchen und ein waffenvernarrter Ossi, der einen alten Panzer wiederhergerichtet hat, von alten Zeiten träumt und mitten im Niemandsland eine Panzer-Fahrbahn betreiben möchte.

Ein Pärchen im Sand, die Frau mit blutverschmiertem Gesicht, der Mann mit nacktem Oberkörper, sie starren sich feindselig an (© David Balzer)
In der Ödnis: Die Gescheiterten des Mauerfalls bei Dirk LauckeBild: David Balzer

"Für alle reicht es nicht" heißt Lauckes Stück, und er konfrontiert seine traurigen Gestalten mit asiatischen Flüchtlingen, die von Menschenschmugglern verschleppt wurden. Für die Deutschen, die selbst unter die Räder der Wiedervereinigung gekommen sind, ist klar: Die "Fidschis", wie sie im Neonazi-Jargon sagen, müssen weg. Eine plakativ zugespitzte Versuchsanordnung über Underdogs, Nationalismus und Moral hat Dirk Laucke arrangiert. Der Mauerfall habe vor allem "eine Menge in Richtung nationaler Scheiß" gebracht, kritisiert er: "Wiedererwachter Nationalstolz und der Wille, ein Deutscher zu sein, ist mehr und mehr nationaler Konsens".

Neue Angst vor dem Fremden

Die Idee zu dem grenzüberschreitenden Theaterprojekt kam ausgerechnet aus London ganz im Nordwesten Europas, wo Claudia Amthor-Croft, verantwortlich für die Goethe-Kulturprogramme der Region, eine künstlerische Umsetzung des Themas suchte. Gerade von westeuropäischen Autoren, sagt sie, seien unerwartete Beiträge gekommen: "Mich hat überrascht, dass sie ihren Zugang über Migration und Globalisierung suchen".

Mann auf dem Sprung mit nacktem Oberkörper grell rosa beleuchtet. (© Per Morten Abrahamsen)
Szenenausschnitt aus 'Die Geschichte der Zukunft' von Christian LollikeBild: Per Morten Abrahamsen

Der Mauerfall, so die klare Analyse, sorgt für Verwerfungen auch im Westen. Der Däne Christian Lollike, der mit seinem Stück "Die Geschichte der Zukunft" zum Festival eingeladen wurde, erzählt etwa, man habe in seinem Land nach dem Mauerfall optimistisch an die "Eine Welt" geglaubt. "Aber dann sind alle möglichen Grenzen gefallen, wir haben auf einmal Angst bekommen und festgestellt, dass wir eine engstirnige Gesellschaft sind, die keine Impulse von außen haben will".

Gewalt als Alltagsgeschäft

Noch erschreckender als diese Selbsterkenntnis sind allerdings die Diagnosen aus Rumänien und Moldawien. Theodora Herghelegiu aus Bukarest zeigt in ihrem Stück "Die Mauer" Gewaltausbrüche und Morde, die schockierend beiläufig passieren, so wie man vielleicht eine Tür zuschlägt. Die rumänische Gesellschaft war mit dem plötzlichen Umsturz völlig überfordert, meint sie: "Statt Zivilisierung haben wir heute jede Menge Korruption, Lügen und Anmaßung". 1989, so ihr bitteres Resümee, "hat Autos, Coca-Cola und richtigen Kaffee gebracht."

Ahnlich sieht es Nicoleta Esinencu, Jahrgang 1978, die mit einem finsteren Stück aus ihrer Heimat Moldawien das Festival eröffnete. Du bist zehn, heißt es dort, und die Lehrerin schlägt dir mit dem Lineal auf die Finger. Du bist zehn und musst jede Woche einen Friedensbrief schreiben. Du kannst in drei Minuten eine Kalaschnikow auseinandernehmen und zusammenbauen. Und du weißt, wie man in 0,01 Sekunden eine Gasmaske aufsetzt. Oder eine Atemmaske aus Gaze macht.

Bühnenbild mit Figuren, die eine Gasmaske tragen. Dahinter eine Videoprojektion (© Florin Tabirta)
Gas als Metapher der geistigen Verseuchung: Szenenausschnitt aus 'Antidot' von Nicoleta EsinencuBild: Florin Tabirta

Geistige Verseuchung

Du bist zehn und, so könnte man ihre Anklage fortsetzen, du lebst in einem autoritären Staat, in dem sich nichts geändert hat seit dem Ende der Diktatur. Ihr Stück "Antidot" (Gegenmittel) ist ein wütender Rundumschlag gegen staatliche Gewalt vor und nach dem Mauerfall, gegen die atomare Bedrohung und jenen Terror, der aus dem Kampf gegen den Terror erwächst. "Früher war bei uns alles verboten", sagt sie, "jetzt denken die Leute, Demokratie heißt, wir können alles machen, wir können jemanden umbringen." Gas und Radioaktivität, die unsichtbaren Bedrohungen, sind in ihrem Stück allgegenwärtig: Gas wird zur Metapher der geistigen Verseuchung. Und als die Schauspieler Graffiti aus Spraydosen auf die Bühne sprühen, steigen dem Publikum beißende Dämpfe in die Atemwege - da rückt das Thema beklemmend nahe.

Im Westen gespielt, zu Hause ignoriert

Schauplatz dieser furiosen Deutschlandpremiere war das Staatsschauspiel Dresden – eine prominente Bühne im Osten Deutschlands. Als zweiten Schauplatz konnte das "Goethe"-Team die westdeutsche Stadt Mülheim an der Ruhr gewinnen, die sich als Ort für neue Dramatik und grenzüberschreitende Theaterprojekte profiliert hat. Außerdem werden alle Stücke in den Heimatländern der Dramatiker aufgeführt. Gut für die Autoren: Einige der beteiligten Bühnen haben nicht nur "ihre" Autoren aufgeführt, sondern planen nun auch Produktionen anderer Stücke, die im Zuge des Projekts entstanden sind. Bei Nicoleta Esinencu hat das schon funktioniert: Mit ihrem Stück "Antidot" ist sie nach Polen und Dänemark eingeladen. Ob das ihre Situation im eigenen Land verändert, ist allerdings die Frage. Kritische Stimmen wie ihre werden dort nicht gerne gehört. "Ich habe Kontakte zu Bühnen in Europa", sagt sie, "aber ich habe keine Kontakte zu Hause!"

Autorin: Aya Bach

Redaktion: Conny Paul