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Böse Chemie? Ganz und gar nicht!

Brigitte Osterath z. Zt. Berlin
13. September 2017

Glyphosat, Geschmacksverstärker, Mikroplastik - bekommen Sie Bauchschmerzen, wenn Sie das Wort "Chemie" hören? Völlig unbegründet, sagen Chemiker - und diskutieren in Berlin darüber, wie sie die Welt retten können.

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Eine Chemiestudentin trägt ein grünes T-Shirt mit der Aufschrift "Chemiker haben für alles eine Lösung" auf dem Wissenschaftforum 2017 in Berlin
Für Nichtchemiker: Hinter dem Motto des diesjährigen Kongresses verbirgt sich ein WortspielBild: DW/B. Osterrath

"Chemiker haben für alles eine Lösung", steht auf den grünen T-Shirts der Studenten gedruckt, die auf Deutschlands größter Chemikerkonferenz in Berlin aushelfen. Der Spruch mit dem Wortspiel - denn für Chemiker ist eine Lösung zunächst mal ein Gemisch von Feststoffen in Wasser - ist das Motto der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), die die Konferenz ausrichtet.

Ausgerechnet die Chemie soll die Probleme der Menschheit lösen? Die Chemie, die katastrophale Unfälle á la Tianjin in China verursacht und immer neue verheerende Substanzen wie das Plastik ausbrütet, das jetzt unsere Meere verschmutzt und uns alle vergiftet?

Ja, sicher, sagt Wolfram Koch, Geschäftsführer der GDCh. "Denn wir leben in einer molekularen Welt und die Chemie ist die einzige Wissenschaft, die neue Moleküle erschafft - und daher auch neue Materialien mit neuen Eigenschaften." Daher könne sie zur Lösung sehr vieler Probleme beitragen.

Chemie an sich könne gar nicht "böse" sein, ergänzt Henning Hopf, emeritierter Chemieprofessor an der Technischen Universität Braunschweig und einst Präsident der GDCh. "Wir alle bestehen aus Chemie - selbst Gefühle sind die Folge von physikalischen und chemischen Prozessen." Duschen, Zähne putzen, essen, verdauen - überall in unserem Leben begegneten wir chemischen Substanzen und Reaktionen. "Wer sie besser versteht, kann die Welt für die Menschen ein Stück besser machen."

Von Impfstoffen zu Photovoltaik

Auch auf dieser Konferenz gibt es sie: die für Nicht-Chemiker absolut unverständlichen Vorträge, in denen es von chemischen Formeln nur so wimmelt und in denen es allein darum geht, wie man neue Moleküle mit noch komplizierteren Namen erschafft - ohne zu ahnen, wofür diese Substanzen jemals gut sein sollen. Unverzichtbare Grundlagenforschung eben.

Peter Seeberger vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung hält beim WiFo 2017 in Berlin einen Vortrag über neue Impfstoffe gegen Krankenhauskeime. Eine Folie zeigt, an welchen Impfstoffen gegen welche Keime das MPI derzeit alles forscht.
Peter Seeberger vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung präsentiert, an welchen Impfstoffen gegen welche Krankenhauskeime das MPI derzeit alles forschtBild: DW/B. Osterrath

Die überwiegende Zahl der Forscher allerdings hat bei ihrer Forschung ganz konkrete, noble Ziele vor Augen. Chemiker stellen auf der Konferenz neue potenzielle Impfstoffe gegen Krankenhauskeime vor, zeigen, wie sich Grenzwertüberschreitungen durch Dieselabgase messen lassen, und präsentieren neue Materialien, die aus Sonnenenergie noch effizienter Strom machen. Gesundheit, Umweltschutz und nachhaltige Energiegewinnung dominieren das Vortragsprogramm.

"Der Nutzen der chemischen Forschung ist immer größer als ihr Schaden", sagt Henning Hopf. "Wenn die Chemie so böse wäre, würde die Lebenserwartung nicht ständig steigen." Laut Weltgesundheitsorganisation wäre die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen beispielsweise um 15 bis 20 Jahre geringer, wenn es niemals Antibiotika gegeben hätte.

Mit Molekülen die Menschheit retten

Ben Feringa bekam im Jahr 2016 den Nobelpreis für seine molekularen Maschinen - eine ziemlich abgefahrene Idee, von der man heute noch gar nicht so genau weiß, wofür sie einmal gut sein soll. Aber der niederländische Chemiker forscht auch an einer anderen, viel bodenständigeren Idee, die er auf dem Wissenschaftsforum in Berlin erläutert: Antibiotika, die sich ein- und ausschalten lassen.

Feringa stellt Moleküle her, die an sich harmlos sind für Mikroorganismen. Erst nach Bestrahlung mit UV-Licht verändern sie sich und werden zum wirksamen Mittel gegen Bakterien. Über UV-Licht lässt sich demnach steuern, an welcher Körperstelle sie aktiv werden. Wird das UV-Licht ausgestellt, verlieren die Moleküle ihre antibakterielle Eigenschaft wieder. "So werden keine Darmbakterien in Mitleidenschaft gezogen und es gelangen auch keine Antibiotika in die Umwelt." Das soll Antibiotikaresistenzen vorbeugen, "der tickenden Zeitbombe der Menschheit", wie Feringa sagt.

Neue Akkus braucht der Mensch

Auch das Laden und Entladen von Batterien sind chemische Reaktionen. Um leistungsfähigere Akkus für Laptops, Handys, aber auch für Elektroautos zu entwickeln, braucht es die Chemie. "Die Musik spielt in den Materialien", sagt Philipp Adelhelm von der Universität Jena, der an Materialien für die Energiewende forscht. "Bei allen Komponenten der Batterien gibt es noch was zu tun."

Die Gesellschaft Deutscher Chemiker verteilt auf dem WiFo2017 in Berlin Anstecker mit der Aufschrift "Proud to be a chemist".
Chemiker, outet euch!Bild: DW/B. Osterrath

Derzeit sind Lithiumionenbatterien die Akkus der Wahl. Allerdings ist die Reichweite der meisten heutigen Elektroautos nach wie vor sehr gering. Auch enthalten die Akkus beispielsweise das Metall Kobalt - das wird zum größten Teil im Kongo mit Kinderarbeit abgebaut. Die Forscher wollen Kobalt durch andere Elemente ersetzen und die Effizienz der Batterien erhöhen, damit auch die Reichweite der Elektroautos steigt.

"Mehr Lithium auf kleineren Raum zu packen, könnte einiges bewegen", sagt Adelhelm. Er selbst forscht an ganz neuen Arten von Batterien aus gut verfügbaren Elementen wie Natrium, Eisen und Schwefel. Solche neuen Batteriearten könnten womöglich in 20 Jahren oder mehr aktuell werden. Adelhelm hofft, dass sie sich für stationäre Speicher eignen, die Strom aus Sonne und Wind für schlechtere Zeiten speichern - eine wichtige Voraussetzung, damit die Energiewende gelingt.

Der Natur auf den Fersen

Möglichst viel Qualm und viel Brodeln im Reaktionsgefäß - das war einmal. Heutzutage stehen Chemiker auf Reaktionen, die bei Raumtemperatur, in Wasser und möglichst sanft ablaufen - ganz nach Vorbild der Natur. Enzyme sind "in": Eiweiße, die ganz natürlich Reaktionen beschleunigen und sie umweltfreundlicher gestalten.

Größtes Vorbild für die Chemiker ist die Photosynthese, mit der Pflanzen allein aus Kohlendioxid und Wasser mit UV-Licht Zucker herstellen. Aber so gut sind die Chemiker noch nicht. "Die Natur hatte Milliarden Jahre Zeit, all diese Reaktionen zu entwickeln und zu optimieren", sagt Henning Hopf. "Die wissenschaftliche Chemie aber gibt es erst seit 200 Jahren."

Henning Hopf, emeritierter Chemieprofessor an der TU Braunschweig und überzeugter Chemiker, auf dem Wissenschaftsforum in Berlin
Überzeugter Chemiker: Chemieprofessor Henning HopfBild: DW/B. Osterrath

Manchmal geht etwas schief

Nicht immer allerdings erreichen die noblen Ideen der Chemiker ihr Ziel. Und dann passiert das, was Chemiker eigentlich verhindern wollen: Die Natur nimmt Schaden - und damit auch die Menschen.

Als Chemiker Dichlordiphenyltrichlorethan, kurz DDT, entwickelten, waren sie sich sicher, dass dieses Molekül ein Segen sei. Tatsächlich brachte es seinem Entdecker, dem Schweizer Paul Hermann Müller im Jahr 1948 den Nobelpreis für Medizin ein. DDT tötet Insekten, und die WHO setzte es großflächig zur Bekämpfung der Malaria ein. Inzwischen ist das Molekül in Deutschland und vielen anderen Ländern verboten. Denn das Wundermittel hat verherende Nebenwirkungen: Es reichert sich in der Umwelt an und führt bei einigen Vogelarten dazu, dass die Eierschale dünner wird - die Küken überleben nicht, der Bestand dieser Vogelarten nahm rapide ab.

Auch die Freude über eine neue, absolut ungiftige Sorte von Kühlmitteln, den Fluorkohlenwasserstoffen (FCKW) verging, als bekannt wurde, dass sie die Ozonschicht zerstören.

"Gegen so etwas werden wir nie gefeit sein", sagt Henning Hopf. "Solche Unglücke werden immer wieder mal passieren - egal, wie viel Risikoforschung wir machen." Denn auch Chemiker wüssten eben nicht alles. Es hätte sich damals auch niemand träumen lassen, dass Plastik sich nach und nach zu mikroskopisch kleinen Bruchstücken zerlegt, die sich überall auf unserem Planeten verteilen.

Solche medienrelevanten Ereignisse aber sind es, die dem Ruf der Chemie immer wieder aufs Neue schaden. Die Branche hat noch einiges an Arbeit vor sich, bis man ihr das neue Weltrettungsimage abnimmt.