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"Was durfte ich schreiben? Nur Lügen!"

Zhang Xiaoying 23. Februar 2005

Mit 20 trat er der Kommunistischen Partei bei, Mao Tse-Tung brandmarkte ihn 22 Jahre lang als Rechtsabweichler. Nach kurzer Rehabilitation ging er wieder 17 Jahre ins Exil: Liu Binyan.

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Liu Binyan, hier bei einer Diskussionsveranstaltung von Amnesty International (1997)Bild: AP

Liu Binyan war einst der berühmteste Reporter in China. Durch seine investigativen Reportagen über die sozialen Missstände und das Leiden der kleinen Leute erlangte er nicht nur Ruhm als Journalist, nahm er auch einen kometenhaften Aufstieg in der Partei. So wurde er stellvertretender Vorsitzender des parteitreuen chinesischen Schriftstellerverbands.

Prominenter Entrechteter

Mit der Öffnungspolitik in der Wirtschaft Ende der 1970er Jahre erlebte die chinesische Presse ebenfalls eine Blütezeit mit mehr Freiheit - allerdings nur von kurzer Dauer. Mit der von Deng Xiaoping gestarteten Kampagne gegen den so genannten "Bourgeois-Liberalismus" fiel der freimütige Journalist wieder in Ungnade und diesmal wurde er für immer aus der Partei verbannt. Nachdem die KP ihm so viel Unrecht getan hat, bereut er heute die Entscheidung, der Partei in den 1940er Jahren beigetreten zu sein?

"Es gibt kaum etwas in meinem Leben, das ich bereue. Absolute Freiheit gibt es nicht. Die Menschen entwickeln sich immer mit den Zeiten. Als Rechtsabweichler gebrandmarkt zu werden, müsste eigentlich das Schlimmste sein. Aber wenn ich mir nochmals aussuchen dürfte, möchte ich wieder Rechtsabweichler werden. Wenn es nicht so wäre, hätte ich höchstens eine leichte Dienststrafe bekommen und ich hätte weiter als Journalist arbeiten dürfen. Die Frage ist aber, was durften die chinesischen Journalisten von 1958 bis 1979 überhaupt schreiben? Nur Lügen! Ich hätte wahrscheinlich kein [richtiges] Buch schreiben können. Was noch schlimmer wäre, dass ich weiter als Privilegierter in der Gesellschaft leben würde und dass mir das Elend des Volks nie bewusst wäre. Als Rechtsabweichler wurden mir 22 Jahre lang alle Rechte entzogen. Aber nach der Rehabilitation im Jahr 1979 konnte ich noch immer vieles tun, das ich nicht tun würde, wenn ich mich wie einer der Privilegierten fühlte."

Weder das harte Leben im Umerziehungslager noch die Verbannung aus der Partei hat ihn eingeschüchtert. Perry Link, Ostasien-Experte an der Princeton Universität, bezeichnete diesen furchtlosen und unbestechlichen Journalist als "das Gewissen Chinas". Liu Binyan verfolgt sein Leben lang das Motto, die Wahrheit zu sagen.

"Vielleicht liegt es daran, dass ich über 20 Jahre als Rechtsabweichler gebrandmarkt wurde. Dadurch war ich den Menschen der unteren sozialen Schicht, die oft von der intellektuellen Elite nicht wahrgenommen wurden, viel näher gekommen, und hatte deren Elend am eigenen Leib erfahren. Das Mitleid mit ihnen entwickelte sich zur Empörung über die Ungerechtigkeit und zum Drang, die Wahrheit zu sagen. Ich glaube, das ist immer der Ansporn für mich gewesen."

Kritisch wie eh und je

Trotz der Verbannung aus der Partei galt Liu Binyan immer noch als einer der angesehensten Journalisten und Gelehrten des Landes. Mit der Zustimmung des damaligen Parteisekretärs Zhao Ziyang wurde ihm von 1988 bis 1989 ein Forschungsaufenthalt in den USA ermöglicht. Aber dann geschah die Niederschlagung der Studentenbewegung im Juni 1989. Und er konnte nicht anders, er blieb ein ewiger Kritiker des Regimes. Liu Binyan lebt seitdem in den USA, arbeitet als Publizist und engagiert sich bei der Gesellschaft für China-Studien in Princeton, New Jersey.

Seit 1989 hat sich die chinesische Medienlandschaft viel verändert. Es hat noch nie so viele Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radio-Programme gegeben wie heute. Trotzdem hapert es an der Pressefreiheit.

"In der Tat sind nach 1989 große Fortschritte in der chinesischen Medienlandschaft zu verzeichnen, aber was die Pressefreiheit angeht, ist der Fortschritt sehr begrenzt. Nehmen wir die 'Volkszeitung' als Beispiel. Sie erlebte eine Blütezeit von 1978 bis 1981, wo sie die meiste Handlungsfreiheit seit ihrer Gründung im Jahr 1948 erlangte und damit das 'freieste' Blatt im ganzen Land wurde. Heute ist ihr derartige Freiheit verweigert und es hat sich sogar zurückentwickelt auf den Stand von 1989. Themen wie Korruption werden noch behandelt. Die Berichterstattung über viele brisante Themen muss sich aber nach der Xinhua-Agentur richten. Ohne Genehmigung darf kein Interview mehr geführt werden. Solange das System sich nicht ändert, kann die Pressefreiheit jede Zeit beliebig eingeschränkt werden. Dass unter Hu Jintaos Herrschaft die Kontrolle über Medien noch strenger wird als zu Zeiten von Jiang Zemin, haben viele nicht erwartet. "