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"Weckruf?"

21. Januar 2010

Die Niederlage der Demokraten bei den Senatsnachwahlen in Massachusetts beschäftigt auch die Kommentatoren in den deutschen Zeitungen. Sie sehen Barack Obama angekommen in der Realität und den Mühen der Ebene.

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Märkische Oderzeitung, Frankfurt:

"Dass mit Massachusetts nun sogar ein traditionell demokratischer Bundesstaat, die Heimat des verstorbenen Senators Edward Kennedy, verloren geht, ist mehr als nur ein Warnzeichen. Ein Jahr nach seinem Einzug ins Weiße Haus hat US-Präsident Obama die mehrheitliche Unterstützung der Amerikaner verspielt. Diese Tatsache kann auch kein Nobelpreis kaschieren. Er war mit unglaublich klingenden Versprechen in den Wahlkampf gezogen. Doch die Realität hat alle eingeholt: den Präsidenten, die Amerikaner, die Europäer. Dramatisch ist, dass Obama nun womöglich auch die Gesundheitsreform verspielt hat. Für 45 Millionen nichtversicherte US-Bürger ist das ein Schlag ins Gesicht."

Lausitzer Rundschau, Brandenburg:

"Der Verlust des Senatssitzes in Massachusetts ist gleichbedeutend mit dem schleichenden Abschied von der Gesundheitsreform, einem der wichtigsten Reformprojekte des US-Präsidenten. Was den dem Staat vertrauenden Europäern sinnvoll erscheint, nämlich eine Gesundheitsversicherung für alle, ist für viele Amerikaner Teufelswerk. (…) Diese Definition gegen etwas ist zunehmend bezeichnend für Politik in den USA. Denn nun können die Republikaner zwar nicht Obamas Gesundheitsreform völlig stoppen, aber immer wieder und so lange verzögern, bis von deren Inhalt und Ziel nahezu nichts mehr übrig ist. Kleine Minderheit legt große Mehrheit an die Kette - ein politischer Vorgang, den die Gründer der USA durchaus so wollten, um eben die kleine Minderheit zu schützen. Was zwei Jahrhunderte sinnvoll war und noch immer ist, kann sich für die USA im asiatischen Jahrhundert aber zunehmend zur Hypothek erweisen: dann nämlich, wenn nahezu jede Reform blockiert wird. Jetzt allerdings mit Häme und Herablassung auf Obama zu blicken, ist gerade aus deutscher Sicht unangebracht."

Ostsee-Zeitung, Rostock:

"Senator Ted Kennedy, dessen Tod die Nachwahl erforderlich gemacht hatte, ebnete Obama 2008 den Weg zur Präsidentschafts-Kandidatur - unter einer Bedingung: Obama sollte die Gesundheitsreform ins Zentrum seiner Politik rücken - die große Reform, die allen Amerikanern Zugang zu einer Krankenversicherung gewähren sollte. Obama hielt Wort, auch über Kennedys Tod hinaus - trotz Wirtschaftskrise, Defizit und Kriegen. Er musste viel verhandeln und viele Kompromisse eingehen, aber immerhin stand er kurz davor, nach der Zustimmung des Repräsentantenhauses auch im Senat eine blockadesichere Mehrheit von 60 Stimmen zu bekommen. Diese Mehrheit ist jetzt dahin. Obama droht an der großen Gesundheitsreform zu scheitern - wie vor ihm schon die Präsidenten Nixon und Clinton."

Eßlinger Zeitung, Esslingen:

"Das Zeitfenster, innerhalb dessen Obama innenpolitisch leichthändig agieren und sich ausgiebig Freiräume für sein außenpolitisches Engagement schaffen konnte, ist geschlossen. Zumindest für die erste Amtszeit des Hoffnungsträgers scheint der Rückhalt im Senat unwiederbringlich verloren. Das bedeutet noch nicht, dass Obama seine Ideen für die Erneuerung des Landes abzuschreiben braucht. Der Überflieger steht vor den Mühen der Ebene."

Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg:

"Die Niederlage könnte sich als Weckruf zur rechten Zeit erweisen. Obama ist nun gezwungen, sich stärker auf die Tagespolitik zu konzentrieren als auf Visionen für die Zukunft. Wenn er sich eines Themas annimmt, das die Amerikaner bewegt - wie die Schaffung von Arbeitsplätzen - und die demokratischen Abgeordneten besser führt, kann ihm die Wende gelingen. So wie einst Bill Clinton, der bei den Kongresswahlen 1994 eine herbe Niederlage erlitt - und zwei Jahre später wiedergewählt wurde."

Autor: David Zimmermann

Redaktion: Sven Töniges