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Weitreichende Nebenwirkungen

Marcus Bösch12. Oktober 2004

Nach dem Marktrückzug des Präparats Vioxx drohen dem Pharmakonzern Merck Schadensersatzklagen in Milliardenhöhe. Während Kläger und Rechtsanwälte lukrative Entschädigungen anstreben, droht eine Ausweitung der Krise.

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27.785 Herzattacken und Herztode allein in den USABild: AP


Die umfangreichste Rückholaktion in der Geschichte der Pharmaindustrie ist in vollem Gange. Seit Anfang Oktober zieht das US-Unternehmen das Rheuma- und Schmerzmittel Vioxx aus dem Verkehr. In einer Studie waren bei einer längeren Einnahme des Medikaments eine Verdopplung von Herzattacken und Schlaganfällen nachgewiesen worden. Vioxx galt mit weltweit geschätzten 80 Millionen Nutzern als ein Bestseller der Branche und wurde zuletzt in 80 Ländern vertrieben.

Sammelklagen und Schadensersatz

Rheumamittel Vioxx
Aus allen Apotheken verschwundenBild: AP

Obwohl die Rücknahme enorme logistische Kosten zur Folge hat, ist sie für Merck eines der kleineren Übel. Denn dem zweitgrößten amerikanischen Pharmakonzern droht die größte Krise in der Firmengeschichte. Neben massiven Umsatzeinbußen und einem nachhaltigen Imageschaden, drohen zahllose Schadensersatzprozesse.

Bereits einen Tag nach Beginn der Rücknahme meldete die New Yorker Kanzlei Parker & Waichmann Ansprüche für Hunderte von Patienten an. Weitere Sammelklagen wurden von Rechtsanwälten in Oklahoma City eingereicht. Der Vorwurf: Merck habe die Öffentlichkeit und Gesundheitsdienstleister nicht über die Risiken von Vioxx informiert.

Eigennützige Suche nach Opfern

Vioxx von Merck
Unternehmen unter DruckBild: AP

Für eine sehr hohe Zahl der Klagen spricht vor allem die weltweite Verbreitung des Schmerzmittels. Im Auftrag angeblicher Vioxx-Geschädigter will sich auch der Berliner Anwalt Andreas Schulz einer US-Sammelklage anschließen. Gegenüber dem deutschen Merck-Ableger hat Schultz - laut Medienberichten - bereits Ansprüche auf Schadensersatz geltend gemacht.

Vehement verteidigt werden die Rechte der Verbraucher aber vor allem in den USA. Denn Schadensersatzklagen sind in den Vereinigten Staaten ein lukratives Geschäft. Bei durchschnittlichen Entschädigungssummen von zwei Millionen Dollar bei erfolgtem Schuldzuspruch in der Pharmabranche und einem üppigen Abschlag für den Anwalt, lohnt die Suche nach vermeintlichen Opfern.

Beunruhigende Vergleichsfälle

Kanzleien wie Martin & Associates bieten telefonische Info-Hotlines für potentielle Kläger. Da Rechtsanwälte in den USA selbst auf die Suche nach Opfern gehen dürfen, schalten sie mitunter Anzeigen in Magazinen oder Fernsehspots. Die finanziellen Dimensionen der bevorstehenden Klagewelle gegen Merck werden sich allerdings erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen. "Da bleibt jetzt erstmal abzuwarten was bei den ersten Klagen rauskommt", sagt Peter Düllmann, Pharmaanalyst beim Kölner Bankhaus Oppenheim im Gespräch mit DW-WORLD.

Merck wäre nicht das erste Pharmaunternehmen, das durch spektakuläre Rückholaktionen an den Rand des Ruins getrieben wird. Die Vergleichszahlen mit früheren Fällen dürften für das Unternehmen alles andere als beruhigend sein. "Beim Unternehmen Wyeth und seiner angeblichen Diät-Pille gab es 1997 nur knapp 13.000 Betroffene", erklärt Düllmann:" und bis jetzt haben die 16 Milliarden Dollar Entschädigungen bezahlt." Im Fall von Vioxx soll es - laut einer Studie der US-Gesundheitsbehörde FDA - allein in den USA 27.785 Herzattacken und Herztode gegeben haben, die mit dem Rheumamedikament zusammenhängen.

Krise der Pharmaindustrie

Patienten die nun statt Vioxx auf das Konkurrenzprodukt Celebrex des Branchenprimus Pfizer umgestiegen sind, dürften nach letzten Berichten weiter beunruhigt bleiben. "Denn nicht nur Vioxx hat ein Nebenwirkungsproblem", erläutert Bruno Müller-Oerlinghausen, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, im Gespräch mit DW-WORLD. Der Grund: Auch Vioxx-ähnliche Medikamente stehen im Verdacht, drastische Nebenwirkungen zu haben. Celebrex basiere auf demselben Mechanismus wie Vioxx. Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hält daher eine weitreichende Krise der Pharmaindustrie für denkbar.