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Welle der Willkür

Markus Reher11. April 2006

Wer in Russlands Hauptstadt schwimmen will, wird erst mal baden gehen. Dabei sind die Moskauer Wasser durchaus zugewandt: Eisbaden gilt als Volkssport. Wasser und Wässerchen, so lautet die russische Gesundheitsformel.

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Vogelgezwitscher und Tauwetter. Es wird Frühling in Moskau, untrüglich, unaufhaltsam. Der Winterspeck muss also weg. Doch die Angebote der meisten Fitnessstudios, die in der Metropole in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen, erscheinen unerhört teuer. Warum also nicht mal wieder schwimmen gehen? Kollegen haben von der "Tschaika" erzählt", der "Möve", einem Freibad im Zentrum der Millionenstadt. Einladend funkeln die Wellen in den ersten, noch zaghaften Sonnenstrahlen, Dampfschwaden steigen verspielt über dem beheizten Nass in die noch winterlich kalte Frühlingsluft. Das Schwimmerherz schlägt höher. Schnell ein Ticket gekauft und dann mit beherztem Sprung ab in die Fluten.

Kampf dem Fußpilz

Umso bitterer die Enttäuschung am Kassenhäuschen. Zunächst muss man sich in einem schier undurchschaubaren Preissystem für ein "Abonement" entscheiden: Eine Monatskarte mit genau festgelegten Badezeiten. Jede Terminänderung kostet extra. Doch erst die folgende Frage wirft den Schwimmfreudigen aus der Bahn: "Medspravka est?", keift eine rundliche ältere Dame durch den scheppernden Lautsprecher des Kassenhäuschens. "Haben Sie ein medizinisches Attest?" Ein Attest? Wozu das? Und wird das Wasser hier denn nicht gechlort? Doch, das wird es, wie man noch Tage später auf der Haut spürt.

An der "Spravka" führt dennoch kein Weg vorbei. Dem Fußpilz keine Chance! Das sei man seinen Gästen doch schuldig. Und auch die Pumpe, kommt auf den Prüfstand. Im 50-Meter-Sportbecken lauert der Herzinfarkt schließlich an jedem Beckenrand. Zum Glück gilt die "Tschaika" als "elitnyj", als Elitebad. Es ist zwar etwas teurer, doch dafür findet man neben Fitness, Friseur und russischem Fastfood, ein "Medkabinet", ein Krankenzimmer samt Ärztin. Neptun sei Dank! Nach kurzer Inspektion gibt es den Stempel ins Abo - zum Halbjahrespreis von umgerechnet 30 Euro. Doch der entpuppt sich beim nächsten Besuch in einem anderen Bad der Stadt als lahme Ente. Ein ordentliches Attest müsse her, scheppert es wieder aus dem Kassenlautsprecher, eines aus einer Polyklinik. Für umgerechnet sechs bis zehn Euro werden die Persilscheine derzeit gehandelt, willkürlich festgelegt, je nach Tagesform des diensthabenden Arztes.

Wilde Blüten

Die Bürokratie treibt in Russland wieder wilde Blüten. Alles in geregelten Bahnen, versteht sich, und nicht nur im "Bassejn", dem Schwimmbad. Dort lässt sich bei regelmäßigen Besuchen allerdings auch beobachten, wie man die nerven- und zeitraubende "Spravka" ganz umgeht, und sein Herz fürs Schwimmen schont. Mit einem gewinnenden Lächeln und einem kleinen Plausch über Wetter, Gesundheit und Familie schiebt der gewitzte und behördengeprüfte Hauptstädter mitsamt seinem Ausweis lässig ein paar Scheine über den Tresen der Umkleideaufsichtsdame. So einfach kann es also auch gehen. Mit der "Medspravka", dem Attest, schwimmt man allerdings erst an der Oberfläche des trüben Behördenpfuhls aus "Spravki" und "Propuski". Bescheinigungen und Genehmigungen braucht es allenthalben, sei es bei der Steuerbehörde, beim TÜV oder der Registrierung als ausländischer Stadtbesucher. Und da braucht es vor allem stoische Geduld und langen Atem. Oder jemanden, der weiß, wem man wie am besten eine "kleine Freude machen" kann.