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Krimineller Leichtsinn

15. September 2009

Vor einem Jahr ging Lehman Brothers in die Pleite. Leichtsinn und Übertreibungen bis an die Grenze des verbrecherischen Handelns sind immer noch nicht hinreichend bestraft worden, meint Karl Zawadzky.

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Karl Zawadzky, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Deutschen Welle
Karl Zawadzky, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Deutschen WelleBild: DW / Christel Becker-Rau

Das Bedauern über die Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers heute vor einem Jahr (15. September 2008) hält sich in engen Grenzen, denn ganz besonders diese Bank hatte sich mit waghalsigen bis unseriösen Geschäften hervorgetan. Mit Derivaten und Zertifikaten von Lehrman Brothers haben viele Sparer viel Geld verloren. Dennoch war es ein schwerer Fehler des damaligen amerikanischen Finanzministers Henry Paulson, die Bank nicht zu retten, sondern sie untergehen zu lassen. Der Kollaps von Lehman Brothers markiert den offenen Ausbruch der weltweit schwersten Bankenkrise seit achtzig Jahren, der eine Weltrezession folgte. Offensichtlich hatte Paulson die Systemrelevanz von Lehman Brothers nicht hinreichend berücksichtigt; der Konkurs dieser Bank hat das weltweite Finanzsystem an den Rand des Abgrunds gebracht. Eine Kettenreaktion war absehbar; jede weitere Pleite einer großen, systemrelevanten Bank drohte weitere Banken mit in den Abgrund zu reißen. Am Ende wäre es zum totalen Zusammenbruch des Weltfinanzsystems mit unabsehbaren Folgen gekommen.

Schockstarre

Aber auch so waren die Folgen schlimm genug. Denn an dem Tag, an dem Lehman unterging, verfielen das weltweite Finanzsystem und die Weltwirtschaft in eine Art Schockstarre. Banken misstrauten einander, weil niemand wusste, welche Leichen die Konkurrenz im Keller hatte, und liehen sich untereinander kein Geld mehr. Der wichtige Interbankenmarkt trocknete auf der Stelle aus. Da führte dazu, dass die Banken in ihrer Kreditvergabe restriktiver wurden und damit die Probleme vor allem in der Industrie verschärften, wo wegen der allgemeinen Unsicherheit Investitionsvorhaben gestrichen oder aufgeschoben wurden. Die Schockstarre im Bankenbereich hat sich zwar gelöst, aber nur erste Adressen leihen sich wieder untereinander Geld zu günstigen Konditionen; andere müssen erhebliche Risikoaufschläge zahlen oder sind von diesem für die Banken wichtigen Markt weiterhin ausgeschlossen.

Nur durch beherztes Eingreifen der Regierungen ist eine weltweite wirtschaftliche Katastrophe vermieden worden. Kleinere Banken sind vom Markt verschwunden, größere – so genannte systemrelevante – Banken sind von den Regierungen mit Hilfe von vielen Milliarden Dollar, Euro, Pfund, Yen und Schweizer Franken aus der Staatskasse gerettet worden. Die zuvor so oft beschworenen Selbstheilungskräfte des Marktes haben versagt; die Finanzbranche hängt zu einem erheblichen Teil immer noch am Tropf des Staates. Die Regierungen sahen sich zur Rettung veranlasst, weil anders eine Katastrophe nicht abzuwenden war und, so muss hinzugefügt werden, der Krise nicht nur ein Marktversagen, sondern auch ein Staatsversagen zu Grunde lag. Im Finanzsektor hatte mal wieder die Gier über den Verstand gesiegt, als in einer Zeit des billigen Geldes Banken in Amerika in großem Umfang Immobilienkredite an Hauskäufer mit mangelnder, teilweise sogar ohne jede Bonität herausgaben. Das Ergebnis war eine Immobilienblase zuvor nicht gekannten Ausmaßes. Da die Banken das damit verbundene Risiko kannten, verpackten sie gute und schlechte Kredite zu Paketen, die sie an den Kapitalmarkt weiterreichten. In Europa fanden diese Papiere reißenden Absatz bei Banken, die das Konstrukt und die damit verbundenen Risiken nicht begriffen hatten, aber damit die Bankbilanzen und die daraus abgeleiteten Boni in ungekannte Höhen trieben.

Krimineller Leichtsinn

In der Finanzbranche haben sich viele mit absolut unseriösen Geschäften eine goldene Nase verdient. Die Aufsichtsbehören haben entweder das mit den Kreditverbriefungen verbundene Risiko nicht begriffen oder waren zu schwach, um den Schwindel zu verhindern. Vieles, was im letzten Boom als innovativ galt, war nur unseriös bis kriminell. Leichtsinn und Übertreibungen bis an die Grenze des verbrecherischen Handelns sind nicht hinreichend bestraft worden, weil es in der Krise um Katastrophenabwehr und nicht um Vergangenheitsbewältigung ging. Der finanzielle Schaden ist gewaltig; die weltweit eingesetzten Gelder zur Rettung von Banken und zur Stützung der Konjunktur sowie die Verluste an Wirtschaftsleistung belaufen sich auf mehr als 10 000 Milliarden Dollar, eine unvorstellbar große Summe. Zwar ist eine Wiederkehr der großen Depression, wie es sie vor 80 Jahren gegeben hat, verhindert worden, aber mit den Folgen von Finanzkrise und Rezession, mit Firmenpleiten und Arbeitslosigkeit wird die Weltwirtschaft noch lange zu kämpfen haben.

Dabei scheint sich die Industrie schneller als allgemein befürchtet zu erholen; in großen Volkswirtschaften, auch in Deutschland, ist eine Rückkehr auf einen moderaten Wachstumspfad zu beobachten. So erfreulich dies ist, wird aber gerade durch die wirtschaftliche Erholung der Versuch der Finanzbranche begünstigt, sich einer strengeren Regulierung und Aufsicht zu entziehen. Der dritte Weltfinanzgipfel Ende dieses Monats in Pittsburgh ist wohl die letzte Gelegenheit für die Regierungen, sich auf weltweit einheitliche Standards für Banken und Hedge Fonds zu verständigen. Die Chancen, dass es tatsächlich zu einer strengeren und wirkungsvolleren Kontrolle des Finanzbereichs kommt, stehen nicht gut, denn in einigen Staaten – etwa in Großbritannien und der Schweiz – ist dieser Bereich viel zu groß und mächtig, um sich wirkungsvoll kontrollieren zu lassen. In London und New York wird in den großen Banken bereits die nächste Party vorbereitet. Viele Banken verdienen wieder prächtig; Banker erwarten wieder hohe Boni. Wenn sich die Regierungen nicht durchsetzen und der Gier sowie dem Leichtsinn kein Ende bereiten, ist die nächste Krise an den Finanzmärkten kaum zu verhindern.

Autor: Karl Zawadzky
Redaktion: Rolf Wenkel