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Wenn nichts bleibt, wie es ist

9. November 2009

9. November 1989, Berlin. Das Kind, das aufwächst in der Mitte Berlins, wollte immer alles, am liebsten gleich, bekam auch viel, aber eben nicht alles. An diesem Abend will das Kind gar nichts.

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Es ist 16, pubertiert, schmollt über irgendein belangloses Ereignis vom Tag. Es muss noch Schiller lernen, den Handschuh. Der nächste Morgen eine Bewährungsprobe vor dem Literaturlehrer. Irgendwann fällt es ins Bett.
Die Eltern tanzen mit Freunden in einem Einfamilienhaus am Rande der Stadt zu Udo Lindenberg. Die Männer sitzen in der Küche, das Radio plärrt im Zigarettendunst. RIAS Zwei meldet die Grenzöffnung.

Ich schlafe. Schlafen ist mir wichtig. Der Vater flüstert "Wir gehen jetzt mal rüber, in den Westen. Du glaubst es nicht, die Mauer ist offen." Ja, ich glaube, so haben sie’s gesagt: 'Du glaubst es nicht, die Mauer ist offen.' Anna, Hans und die anderen, sie hasten zur Bornholmer Straße. Treffen Nachbarn, die lachen, man versichert sich, zurückzukehren. "Was macht Ihr drüben? Nur mal schauen." Ein Unbehagen und freudiges Glucksen.
Hans wollte schon einmal fliehen. In den Westen. Das wurde bestraft vom Staat.

Vor seinem Löwengarten, das Kampfspiel zu erwarten
10. November 1989, Berlin Mitte

Wir sind verabredet. Am Platz der Akademie, vor der Statue von Friedrich Schiller. Es ist sein 230. Geburtstag. Herr P. liebte die Literatur. Wir liebten Herrn P. Er trug eine Brille, schwarz und undurchsichtig wie für Blinde. Er trug einen Schnauzer, goldbraun wie Dackelfell, an dem er beständig zupfte. Herr P. war Literaturlehrer. Er hielt es aus, zwanzig Minuten ohne ein Wort in die Klasse zu blicken. Er zupfte am Bart. Wir spielten Zustände von Belustigung, Neugier, Provokation durch. Er blieb stumm. Als unsere Verunsicherung komplett war, begann er mit dem Lehrstoff. Ich vermute, er probte schon damals den Aufstand.
Herr P. wartet am 10. November 1989 um 9:45 Uhr vor Friedrich Schiller. Es ist kalt. Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Wir sind vielleicht fünf oder sechs. Wir rezitieren ein bisschen Schiller, irgendwie holprig in den Novemberhimmel hinauf zu einer Statue, zu einem Menschen, der seit über 180 Jahren tot ist. Es ist unweit vom Checkpoint Charlie. So viele Menschen, überall. Ein Kamerateam vom ZDF kommt auf mich zu und fragt "Was machen Sie hier eigentlich?" Ja, was zum Teufel machen wir hier eigentlich?

Mein wilder, wilder Westen: Stefanie Duckstein

Fehlfarben
10. November 1989, Berlin Wedding

Ich will Jeans von Levi’s und Cowboystiefel. Obwohl ich die Amerikaner nicht mehr mochte als andere, ich will Cowboystiefel. Der Traum vom wilden Westen, Pferden, die durch Staub endlos reiten. Endlos war das Zauberwort. Und Levi’s, weil die Oma immer nur Wrangler brachte. Die Müllerstraße im Wedding kommt dem Wilden Westen schon recht nah. Schwingende Saloontüren, Teufelskerle. Eine Stadtansicht, so was von hässlich, so unanders, trübe. Kein Glanz. Kein parfümierter Geruch wie im Intershop. Das soll er sein, der Westen?

Weit im Westen
August 1992, San Francisco

Ich bin auf der Suche nach einem Chevrolet. Krishnajünger, Marihuanageruch, Obdachlose. Zerstückelung der räumlichen und zeitlichen Ordnung. Warum war ich mit 15 nicht auch schon ganz unten. Oder ganz oben. Warum konnte ich nicht auch geringelte Frotteeshorts tragen und durch den Central Park rollerscaten? Warum nicht? Punks, Hippies, Banker - wie soll man das alles nur aufholen? Ich bin schon 19. Drinnen laut. Draußen laut. Lachen laut. Raus, ich muss raus. In die Wüste.
Es ist heiß und still. Über Stunden. Es ist ein Chevrolet, kaffeefarben. Es gibt Cowboystiefel an der Tankstelle. Wir heiraten am Straßenrand. Ich brauche Festigkeit. Wir stehen am Felsenrand vom Zabriskie Point und schauen in die Weite.
Es ist drei Jahre nach dem Mauerfall. Nichts hat mich so erschüttert am Westen wie der Westen.

Wahrheit oder Pflicht

Es gab Fluchten. Auch bei uns. Wir entschieden, zu bleiben. Unsere Welt hörte auf am Balaton oder der Hohen Tatra. Freunde flohen auf Surfbrettern über die Ostsee. Auch wir surften. Aber flohen nicht. Es stand im Raum, immer mal wieder. Doch wir flohen nicht. Wir wussten, was es bedeutet, wenn man sich zu sehr auflehnt gegen die Norm. Es gab da Geschichten.
Ich war 15 und wollte laut Punkmusik hören. Rebellieren gegen irgendetwas. Das war einfach im Osten. Es gab so vieles, gegen das man sein konnte. Wie wütend kann man sein mit 15? Ein politischer Mensch sein - wann fängt das an? Wie schnell hört man damit auf?

Die zweite Hälfte des Himmels

Jetzt lebe ich am westlichsten Rand der Republik. Ich erinnere mich an Fingerkuppen noch taub vom Kerzenwachs der Mahnwachen in der Gethsemanekirche. Die Welt wurde plötzlich sehr sehr weit. Und man durfte - für einen Moment - alles wollen.

Autorin: Stefanie Duckstein
Redaktion: Ramón Garcia-Ziemsen