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"Wenn wir nicht helfen, wer dann?"

Julia Hahn, Suruc (Türkei)28. Oktober 2014

Zehntausende haben sich vor den Kämpfen in Kobane in Syrien in die benachbarte Türkei gerettet. Viele harren in Flüchtlingslagern aus. Ein Netzwerk aus ehrenamtlichen Helfern versucht, die größte Not zu lindern.

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Flüchtlinge im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien
Bild: DW/J. Hahn

Ahlam lächelt. Sie wiegt das Baby in ihrem Arm sanft vor und zurück. Es ist zu sehen, wie stolz sie ist, wie sehr sie ihr Kind liebt. Säße Ahlam nicht hier in diesem heißen, stickigen Zelt - man würde denken, sie sei eine der vielen Frauen, die in der türkischen Kleinstadt Suruc ihrem Alltag nachgehen. Doch die 25-Jährige ist nicht freiwillig hier. Noch vor sechs Wochen lebte sie drüben in Kobane, ein paar Kilometer entfernt, auf der syrischen Seite der Grenze. Sie hatte gerade ihr Baby bekommen, als die Terrormiliz "Islamischer Staat" in ihre Heimatstadt einfiel.

Aus Angst nahm Ahlam ihr Baby und ihre drei anderen Kinder und floh. Wie sie haben sich bereits rund 180.000 Menschen aus Kobane nach Suruc und in umliegende Dörfer gerettet - so die Angaben der türkischen Regierung. Die Einwohnerzahl der kleinen Grenzstadt hat sich in kürzester Zeit mehr als verdoppelt. Die Flüchtlinge sind bei Verwandten oder Freunden unterkommen, manche haben Wohnungen gemietet, andere hausen in verlassenen Gebäuden oder auf der Straße.

Hoffen auf Nachricht aus Kobane

Ahlam bekam einen Platz in einem Flüchtlingslager in Suruc, das auf Initiative der prokurdischen Partei BDP errichtet wurde. In ihrem zehn Quadratmeter großen Zelt leben sechs Personen, manchmal mehr. Tagein tagaus harren sie nun hier aus und warten auf Nachrichten aus dem belagerten Kobane. Dort sollen noch bis zu 1500 Zivilisten leben, sagen Kurdenvertreter. Nachprüfen lässt sich das nicht. Die Vereinten Nationen warnten Anfang Oktober, es seien außer den kurdischen Verteidigern noch zwischen 500 und 700 Bewohner in Kobane, vor allem ältere Menschen. Sollte die Stadt fallen, drohe ein Massaker.

Flüchtling Ahlam mit ihrem Baby - Foto: Julia Hahn (DW)
Flüchtling Ahlam mit ihrem Baby: "Ich mache mir große Sorgen"Bild: DW/J. Hahn

Ahlam ist ein kurdischer Name. Übersetzt heißt er "Träume". Und Ahlam träumt viel in diesen Tagen, aber meistens nichts Gutes. "Ich bin sicher, sie haben unser Haus geplündert und alles gestohlen", sagt sie. Wie viele im Lager hat sie Verwandte und Freunde, die noch in Kobane sind. Jeden Abend sitzt sie am Telefon und wählt die vertrauten Nummern und ist schon froh, wenn am anderen Ende überhaupt jemand abnimmt.

Gespendete Medikamente

Das Kulturzentrum von Suruc ist ein sandsteinfarbener Betonklotz mit einem kurdischen Schriftzug über dem Eingangstor. Eine Gruppe Männer sitzt im Hof vor dem Haus, sie trinken Tee. Im ersten Stock ist der 36-jährige Hassan gerade dabei, in einem engen Raum Schachteln mit Tabletten in ein Regal zu sortieren. Überall stapeln sich Medikamente, weiße Verpackungen mit blauer, grüner, roter Schrift und Fläschchen. Auch Hassan ist vor dem Krieg in Kobane geflohen. Er hatte eine Apotheke in der syrischen Stadt, als die Dschihadisten kamen. Jetzt, hier in Suruc, will er nicht tatenlos rumsitzen.

Hassan aus Kobane - Foto: Julia Hahn (DW)
Apotheker Hassan: Nicht tatenlos rumsitzenBild: DW/J. Hahn

Mit anderen Helfern hat er das Medikamentenlager eingerichtet, um die Flüchtlinge versorgen zu können. Es gibt Dutzende Ehrenamtliche wie ihn, und das Kulturzentrum von Suruc ist in den vergangenen Wochen ihre Basis geworden. "Uns fehlt viel - vor allem Antibiotika und Penizillin", sagt Hassan und lächelt müde. Die Medikamente kommen von überall her. Apotheken aus anderen Teilen der Türkei schicken, was sie selbst nicht brauchen. Auch aus Deutschland sind schon Lieferungen gekommen. Hassan und die anderen Helfer verteilen die Spenden in den Flüchtlingslagern der Stadt.

12 Stunden am Tag im Einsatz

Flüchtlingslager in Suruc - Foto: Julia Hahn (DW)
Lager in Suruc: Zelte für 2000 FlüchtlingeBild: DW/J.Hahn

Auch in Ahlams Camp ist Hassan schon gewesen. Etwa 2000 Menschen leben dort. Obwohl es in Windeseile aufgebaut werden musste, wirkt das Lager gut in Schuss. Sogar Strom haben die Zelte. Kinder spielen Fangen zwischen den grauen Plastik-Planen, Mütter hängen Wäsche zum Trocknen auf. Zu den Helfern hier gehört auch Ahmet. Wie viele andere Kurden aus Suruc hat er sich freiwillig gemeldet.

Zwölf Stunden am Tag sei er im Einsatz, sagt Ahmet und schaut auf die Uhr. Er hat nicht viel Zeit zum Reden. Seine Aufgabe: die Kranken im Camp registrieren, Medikamente verteilen und dafür sorgen, dass Notfälle im Krankenhaus der Stadt behandelt werden. "Wir sind doch ein Volk", entgegnet er auf die Frage, warum er hier ehrenamtlich hilft. "Wenn wir es nicht tun, wer denn dann?" Es mache ihn traurig, die Geschichten der Flüchtlinge zu hören, sagt Ahmet. "Wie sie ihre Häuser verlassen und ihr Leben aufgeben mussten - und jetzt hier in diesen Zelten hausen". Dann verabschiedet er sich höflich, er muss weiter.

Kurde Ahmet - Foto: Julia Hahn (DW)
Freiwilliger Helfer Ahmet: "Wir sind doch ein Volk"Bild: DW/J. Hahn

Angesichts tausender Flüchtlinge sind die Möglichkeiten hier zu helfen begrenzt. Auch die 25-jährige Ahlam muss das heute erleben. Ihr Baby ist krank, aber offenbar nicht krank genug. Es gibt andere, schwerere Fälle, um die sich die Ärzte zuerst kümmern müssen. "Ich mache mir große Sorgen", sagt Ahlam und zupft an dem winzigen Strampler. "Doch es ist immer noch viel besser hier zu sein, als meine Kinder den Islamisten zu überlassen."