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Wer reformiert, verliert

Richard Kiessler2. April 2004

Was bedeutet Gerechtigkeit in Zeiten leerer Kassen? Wie vermittelt man Reformen, die den Bürger Geld kosten? Nicht nur, aber vor allem in Deutschland versucht man, diese Fragen zu lösen. Richard Kiessler kommentiert.

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In der Karikatur einer Berliner Zeitung fragt Gerhard Schröder am Telefon Jacques Chirac, ob der nicht seine links wählenden Franzosen gegen die zu den Konservativen neigenden Deutschen austauschen wolle. Ja, die Regierenden in Europa haben ein Problem mit dem Volk. In Frankreich wurde der Neogaullist im Elysee-Palast an den Wahlurnen in der Provinz gerade abgestraft, weil die Bürger zwar grundsätzlich die Reformen der sozialen Systeme befürworten, aber doch bitte so, dass diese niemandem weh tun.

Der deutsche Kanzler, im Banne erlittener und wohl noch kommender Wahlniederlagen, muss erleben, dass seine SPD in der größten Identitätskrise seit Kriegsende verharrt. An diesem Wochenende (3./4.4.) werden Zehntausende auf die Straßen gehen, um gegen den von der rot-grünen Regierung verordneten Anschlag auf ihre sozialen Besitzstände zu protestieren. Sind westliche Demokratien, im Korporatismus ihrer Interessengruppen verfangen, also unfähig zu Reformen ihrer nicht mehr bezahlbaren sozialen Transfersysteme? Etliche europäische Partnerländer in Skandinavien oder die Niederlande widerlegen diese Behauptung. Immerhin wurden aber auch dort Regierungen abgewählt, nachdem sie ihren Bürgern etwas weg genommen hatten.

Aber auch die deutsche Opposition in ihrem demoskopischen Höhenflug weiß nur zu genau, dass sie ihre Traumnoten nicht sinnstiftenden Alternativ-Konzeptionen verdankt, über die sie auch im Ansatz nicht verfügt, sondern der Enttäuschung der Bürger über die Regierung. Die hatte allerdings, als sie ihre dahin treibende Vorgängerin ablöste, ihre Vorstellungen über den gewandelten Sozialstaat im 21. Jahrhundert ebenso wenig vermittelt wie eine neue Definition der sozialen Gerechtigkeit am Ende des Verteilungsstaates.

Kein Wunder, dass sich viele zornige Bürger von Schröder und den Seinen hinters Licht geführt fühlen. Die Wut des Volkes kennt eben keine Parteien mehr. Doch radikale populistische Heilsbringer, die eine Rückkehr zu den Wohltaten vergangener Tage versprechen, sind mit ihren einfachen Antworten keine Alternative zu unangenehmen, aber unausweichlichen Wahrheiten. Und die

Schönfärberei haben die Bürger ebenso satt wie Schwarzmalerei.

Aufrichtigkeit bleibt deshalb die einzige Möglichkeit, um der

Reformverweigerung entgegenzutreten. Courage kann auch belohnt werden. Der Mut zur Wahrheit verlangt allerdings in der Demokratie einen hohen Preis, selbst den des möglichen Machtverlustes.